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Aktualisiert: vor 50 Minuten 33 Sekunden

Studie: Jede zehnte Frau in Mêrdîn wird im Kindesalter Mutter

30. September 2025 - 8:00

In der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) wird rund jede vierte Frau bereits im Kindesalter verheiratet. Etwa jede zehnte wird noch als Minderjährige zur Geburt eines Kindes gedrängt. Das sind zentrale Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung des Zentrums für soziopolitische Feldforschung (SAMER), die am Montag in Mêrdîn vorgestellt wurde.

Die Erhebung ist Teil eines größeren Projekts zur Dokumentation von Gewalt gegen Frauen in der Region und wurde gemeinsam mit den von der DEM-Partei geführten Stadtverwaltungen von Ertuqî (Artuklu) und Nisêbîn (Nusaybin) sowie unter Beteiligung der Union der Kommunalverwaltungen in Südostanatolien (GABB) durchgeführt. Die Vorstellung der Ergebnisse fand im Rahmen einer Konferenz statt, die mit einer Schweigeminute für von Männergewalt getötete Frauen begann.

Frühverheiratung weit verbreitet

Für die Studie wurden 2.967 Frauen in 46 Stadtvierteln der Bezirke Ertuqî, Nisêbîn und Qoser (Kızıltepe) befragt. Der Fokus der Untersuchung lag auf dem Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt und struktureller Benachteiligung.

Demnach wurden in Ertuqî 4,5 Prozent der Ehen mit Mädchen im Alter zwischen 9 und 14 Jahren geschlossen. In Nisêbîn lag dieser Anteil bei sieben Prozent – bei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren. In Qoser wurden 2,7 Prozent der Ehen mit Mädchen unter 15 Jahren registriert.

Besonders besorgniserregend: In allen drei Bezirken wurde ein erheblicher Anteil dieser früh verheirateten Mädchen bereits im Teenageralter Mütter. In Ertuqî bekamen 26,9 Prozent von ihnen ihr erstes Kind zwischen 14 und 18 Jahren, in Nisêbîn 27,3 Prozent, in Qoser 9,2 Prozent.

Patriarchale Strukturen tief verwurzelt

Die Autor:innen der Studie, darunter die SAMER-Koordinatorin Yüksel Genç, sprechen von einem „ausgeprägten patriarchalen Geschlechterverständnis“, das in vielen Familien und Gemeinschaften der Region fortwirkt. Traditionelle Rollenbilder und soziale Kontrolle durch männlich dominierte Strukturen erschweren Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben.

Zugleich zeigen die Daten auch gravierende Defizite bei Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe: Rund ein Viertel der befragten Frauen hatte keinen Schulabschluss. Die durchschnittliche Erwerbsquote lag in den drei Bezirken bei lediglich 16,3 Prozent – ein Wert, der weit unter dem landesweiten Schnitt liegt.

Gewalt, Ungleichheit und mangelnde Unterstützung

Neben den Zahlen zu Frühverheiratung und früher Mutterschaft wurden die Befragten auch zu Problemen im Alltag und zur Rolle kommunaler Institutionen befragt. Demnach nannten 37,6 Prozent der Frauen finanzielle Sorgen als häufigsten Auslöser für Streitigkeiten im häuslichen Umfeld. An zweiter Stelle folgten Konflikte rund um Kinder und deren Erziehung.

Auf die offene Frage nach den größten Hürden im gesellschaftlichen Leben antwortete die Mehrheit mit Begriffen wie „Ungleichheit“ und „Gewalt“. Der Zugang zu Unterstützungsangeboten sei in vielen Fällen stark eingeschränkt – oder gar nicht vorhanden.

Auch die Arbeit der Kommunen in Bezug auf Frauenbelange wurde kritisch bewertet. Eine Mehrheit der Teilnehmerinnen äußerte sich unzufrieden mit der Qualität und Reichweite von Maßnahmen für Frauen. Auf Fragen wie „Werden in der Stadtplanung die Bedürfnisse von Frauen berücksichtigt?“ oder „Gibt es ausreichende Angebote für Frauen?“ fiel die Zustimmung gering aus. Kritikpunkte waren unter anderem unzureichende Beteiligungsmöglichkeiten, mangelnde finanzielle Mittel und fehlende Standards bei sozialen Dienstleistungen.

„Zwangsverwaltung hat frauenpolitische Arbeit blockiert“

Im Rahmen der Veranstaltung äußerten sich auch Vertreterinnen der DEM-Partei zu den politischen Hintergründen. Die Ko-Bürgermeisterin von Nisêbîn, Gülbin Şahin Dağhan, betonte, dass unter der Zwangsverwaltung durch staatlich eingesetzte Treuhänder viele frauenpolitische Projekte zum Erliegen gekommen seien. „Mit dieser Studie wollten wir nicht nur ein Schlaglicht auf die Realität werfen, sondern auch neue Ansätze für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen entwickeln“, sagte sie.

Auch die abgesetzte Ko-Bürgermeisterin der Provinzhauptstadt Mêrdîn, Devrim Demir, sprach bei der Veranstaltung. Es sei entscheidend gewesen, „die Ursachen des Problems zu verstehen, um tragfähige Lösungen zu entwickeln“.

Ausblick: Verbesserung der Lebensrealität von Frauen

Die Organisator:innen kündigten an, die Ergebnisse der Studie als Grundlage für kommunale Maßnahmen, Aufklärungskampagnen und bildungspolitische Programme nutzen zu wollen. Ein zentrales Ziel sei es, den Kreislauf aus Armut, Bildungslosigkeit und geschlechtsspezifischer Gewalt zu durchbrechen – insbesondere in ländlich geprägten und sozioökonomisch benachteiligten Regionen.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/zwangsverwaltung-fordert-raumung-von-frauenzentrum-in-wan-45898 https://deutsch.anf-news.com/frauen/dbp-frauenrat-warnt-vor-eskalierender-gewalt-gegen-frauen-47672 https://deutsch.anf-news.com/frauen/tja-zahl-verdachtiger-todesfalle-von-frauen-in-wan-steigt-47818 https://deutsch.anf-news.com/frauen/mus-wird-teil-des-un-projekts-frauenfreundliche-stadte-47954 https://deutsch.anf-news.com/frauen/Elih-mobbing-und-machtmissbrauch-im-zwangsverwalteten-rathaus-46588

 

Kategorien: Externe Ticker

Hatimoğulları: Kommission muss Öcalan als Verhandlungspartner anerkennen

29. September 2025 - 18:00

Die Ko-Vorsitzende der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Tülay Hatimoğulları, hat bei einer Veranstaltung in Izmir die sofortige Aufnahme von Gesprächen mit Abdullah Öcalan durch die Parlamentskommission zur Lösung der kurdischen Frage gefordert. Öcalan sei nicht nur Vermittler, sondern zentraler Akteur eines möglichen Friedensprozesses, so Hatimoğulları.

Die Veranstaltung fand im Rahmen der von der DEM-Partei initiierten Reihe „Treffen für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ im Kongresszentrum Tepekule statt und wurde von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie politischen Organisationen unterstützt. Zahlreiche Bürger:innen nahmen teil.

Verankerung des Begriffs Frieden

In ihrer Rede betonte Hatimoğulları die Bedeutung des Friedensaufrufs, den der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan Ende Februar aus seiner Haft auf der Gefängnisinsel Imrali heraus initiiert hatte. Auch der symbolische Akt der PKK, ihre Waffen niederzulegen, sei von historischer Tragweite.

Die Politikerin schilderte, dass Vertreter:innen der DEM-Partei in den letzten Monaten Gespräche mit einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen geführt hätten – von Gewerkschaften über Frauen- und Umweltorganisationen bis hin zu religiösen und ethnischen Minderheiten. Ziel sei es gewesen, den Friedensbegriff breiter zu diskutieren und gesellschaftlich zu verankern.

Gesetzesvorschläge für neue Friedensphase

Hatimoğulları forderte konkrete gesetzgeberische Schritte als Grundlage für einen neuen Dialogprozess. Dazu zählten:

▪ Ein Sondergesetz für ehemalige PKK-Mitglieder, die sich entwaffnet haben und in den demokratischen Prozess integriert werden sollen;

▪ Reformen im Strafvollzugsrecht, um lange Haftzeiten von politischen Gefangenen zu beenden, die unter Terrorparagrafen verurteilt wurden;

▪ Eine neue Kommunalverfassung, die stärkere demokratische Mitbestimmung auf lokaler Ebene ermöglicht und die umstrittene Treuhänder-Praxis – Einsetzung von Zwangsverwaltern – beendet.

„Ohne Demokratie vor Ort kann es keine Demokratie im Zentrum geben“, sagte sie. Die Aufhebung der Zwangsverwaltungsregelung sei der erste Schritt für glaubwürdige Reformen im Bereich der lokalen Selbstverwaltung.

Hohen Preis gezahlt

Hatimoğulları erinnerte zum Abschluss an die menschlichen Kosten des jahrzehntelangen Konflikts. „Wir haben schwere Verluste erlitten – und wir werden weitere in Kauf nehmen, wenn es dem Frieden dient“, sagte sie.

Mit Blick auf Frauenrechte betonte sie, dass die kurdische Frauenbewegung in der Türkei und in Syrien hart erkämpfte Fortschritte nicht aufgeben werde: „Wir kämpfen weiter – unter dem Motto ‚Jin, Jiyan, Azadî’ – für Freiheit, Gleichheit und ein Ende patriarchaler Gewalt.“

Die Veranstaltung wurde nach den öffentlichen Reden unter Ausschluss der Presse fortgesetzt.

https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/bakirhan-parlament-muss-friedensgesetze-auf-den-weg-bringen-48148 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/Ozel-fordert-zugige-gesetzesreformen-nach-parlamentsoffnung-48166 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/parlamentskommission-plant-anhorung-mit-juristischen-verbanden-48165

 

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Özel fordert zügige Gesetzesreformen nach Parlamentsöffnung

29. September 2025 - 18:00

Der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, hat vor der Wiedereröffnung des Parlaments am bevorstehenden Mittwoch zu schnellen legislativen Schritten aufgerufen. In einer Fernsehsendung erklärte er, das Land befinde sich in einer Phase politischer Möglichkeiten, die nicht vertan werden dürfe.

„Jetzt, wo das Parlament wieder arbeiten wird, müssen bestimmte gesetzliche Regelungen rasch umgesetzt werden“, so Özel. Als konkrete Beispiele nannte er Reformen im Strafvollzug, die Lage schwerkranker Gefangener, eine gesetzliche Neuregelung der Praxis der Zwangsverwaltung sowie Veränderungen am Strafvollstreckungsgesetz. „Diese Punkte betreffen direkt die Gesellschaft der Türkei – sie haben nichts mit der Situation in Syrien zu tun und dürfen nicht weiter aufgeschoben werden“, sagte er.

Kritik an Kommissionsarbeit – aber keine Blockadehaltung

Özel bezog sich in seinen Äußerungen auch auf die „Kommission für Nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“, die zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine politische Lösung der kurdischen Frage eingerichtet wurde und an der die CHP trotz Kritik teilnimmt. Zwar kritisierte er die bisherige Zurückhaltung der Kommission: „Bislang hören sie nur zu und handeln nicht.“ Doch betonte Özel zugleich: „Das ist nicht die Kommission einer Partei oder eines Bündnisses – sie ist Teil des Parlaments, also der Volksvertretung. Deshalb sind wir dort vertreten, auch wenn wir nicht mit allen anderen Parteien übereinstimmen.“

„Dieses Zeitfenster darf nicht verloren gehen“

Özel warnte davor, den aktuellen Prozess zu verzögern oder ins Leere laufen zu lassen. „Wenn diese Chance ungenutzt verstreicht, wissen wir nicht, wann sich eine vergleichbare Gelegenheit erneut ergeben wird“, sagte er. Gleichzeitig verteidigte Özel den CHP-Kurs gegenüber Kritik von konservativer und nationalistischer Seite: „Wir lassen uns nicht in ein falsches Dilemma drängen. Wir werden nicht gegen Türken sprechen, um Kurden zu gefallen – und umgekehrt ebenso wenig. Die Türkei braucht eine Lösung, mit der sich beide Seiten identifizieren können.“

Scharfe Kritik an Erdoğan und US-Beziehungen

In Bezug auf die außenpolitische Lage übte Özel scharfe Kritik an der Regierung des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan – insbesondere an deren Verhältnis zu den USA. Die Beziehungen zwischen Ankara und Washington bezeichnete er als „desolat“. Die Diplomatie sei von institutionellen Strukturen entkoppelt und auf persönliche Kontakte reduziert worden, sagte er.

„Dass man sich damit rühmt, gute Beziehungen zu Donald Trump gehabt zu haben, ist kein politisches Kapital“, so Özel. Trump unterstütze in Europa offen rechtsradikale und türkenfeindliche Parteien wie die AfD in Deutschland oder den Rassemblement National in Frankreich. „Je stärker diese Bewegungen werden, desto mehr Angst bekommen unsere Mitbürger in Europa – vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt“, sagte Özel. „Wer solche Freunde hat, muss sich fragen lassen, wofür er wirklich steht.“

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/parlamentskommission-plant-anhorung-mit-juristischen-verbanden-48165 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/bakirhan-parlament-muss-friedensgesetze-auf-den-weg-bringen-48148 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurtulmus-gesprach-mit-Ocalan-bislang-kein-thema-der-kommission-48117 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/Ozgur-Ozel-bleibt-vorsitzender-der-chp-48049

 

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Parlamentskommission plant Anhörung mit juristischen Verbänden

29. September 2025 - 17:00

Im Rahmen ihrer 13. Sitzung wird die im türkischen Parlament eingerichtete „Kommission für Nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“ am 2. Oktober juristische Fachverbände sowie Rechtsexpert:innen zu aktuellen rechtlichen Fragen im Kontext der kurdischen Frage anhören. Die Sitzung soll um 11 Uhr im Parlament beginnen und von Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş geleitet werden.

In der ersten Sitzungshälfte sind Beiträge von fünf juristischen Organisationen geplant, darunter auch die von kurdischen Rechtsanwält:innen gegründete Vereinigung „Jurist:innen für die Freiheit“ (ÖHD), der Verband Sozialdemokratischer Anwält:innen (SODAD) sowie der Verein für Rechtsforschung (HUDER).

Im zweiten Teil des Treffens wird die Kommission eine Reihe prominenter Rechtswissenschaftler anhören. Eingeladen sind unter anderem Prof. Dr. Abdurrahman Eren, Prof. Dr. Fazıl Hüsnü Erdem, Prof. Dr. Ilhan Üzülmez, Prof. Dr. Mahmut Koca und Prof. Dr. Bahri Öztürk.

Kommission mit Fokus auf politische Reformen

Der Ausschuss wurde mit dem Ziel eingerichtet, neue Wege für gesellschaftlichen Zusammenhalt und politische Lösungen für die kurdische Frage zu erarbeiten. Die aktuellen Anhörungen sollen juristische Perspektiven auf mögliche Reformprozesse in der Türkei einholen – insbesondere im Hinblick auf Grundrechte, Teilhabe und Demokratisierung. Die Ergebnisse und Empfehlungen der Anhörungen werden in einem Bericht zusammengefasst und dem Parlament vorgelegt.

https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/bakirhan-parlament-muss-friedensgesetze-auf-den-weg-bringen-48148 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/gOC-der-ruckkehr-in-dorfer-scheitert-am-dorfschutzersystem-48127 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurtulmus-gesprach-mit-Ocalan-bislang-kein-thema-der-kommission-48117 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-Cicek-ohne-imrali-ist-keine-losung-denkbar-48116 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/bericht-uber-demokratisierung-und-rechtsstaatlichkeit-angekundigt-48101

 

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Der Widerstandskämpfer der Befreiungsbewegung Kurdistans: Heval Rıza

29. September 2025 - 15:00

Er ist eine Legende der Befreiungsbewegung Kurdistans: Als Vorreiter und sozialistischer Widerstandskämpfer hatte „Heval“ Rıza Altun ein außergewöhnlicheres Leben als viele andere politisch aktive Menschen auf der Welt. Nachdem er 1974 Abdullah Öcalan kennengelernt hatte, widmete er sein Leben dem Befreiungskampf des kurdischen Volkes gegen Unterdrückung und Diskriminierung durch den türkischen Staat. 45 seiner 65 Lebensjahre verbrachte er als Widerstandskämpfer in der Türkei, im Gefängnis, im Mittleren Osten, in Europa und in den Bergen Kurdistans. Er kam am 25. September 2019 in Kurdistan durch einen Drohnenangriff der Türkei ums Leben. Ein Held, der etwa in Romanen vorkommen könnte, dessen rebellisches Leben aber real war.

Es war ein heißer Tag im Juni 2018. Als wir an den verschiedenen Obstbäumen vorbeimarschierten und den Treffpunkt erreichten, saß er mit drei weiteren Guerillakämpfer:innen unter einem großen Walnussbaum. Später erfuhren wir, dass er diesen Ort gewählt hatte, weil der Schatten des Baums für Kühle sorgte und er sicher war. Nicht zu Unrecht, denn er war eine Zielscheibe des türkischen Staates, der die kurdischen Freiheitskämpfer:innen für vogelfrei erklärte.

Der Ort befindet sich in den Qendîl-Bergen, die Teil der Zagros-Bergkette sind, an der willkürlich gezogenen Grenze zwischen Irak und Iran. Weiter nördlich grenzen sie an die Türkei, westlich davon liegt die Grenze zu Syrien. Auch der Grenzverlauf zur Türkei wurde willkürlich gezogen und verläuft etwa 100 Kilometer weiter nördlich. Ungeachtet dieser Grenzen ist das aber Kurdistan. Rıza Altun trug grau-grüne Kleidung, die als Uniform der Guerilla in Kurdistan bekannt ist und seinen schlanken Körper bedeckte. Er begrüßte uns mit einem Lächeln in seinem kleinen, schmalen Gesicht. Seit wir uns vor etwa zehn Jahren in Paris getroffen hatten, waren seine lockigen Haare grau geworden. Seine Höflichkeit und Herzlichkeit gegenüber seinen Gästen waren jedoch unverändert geblieben. Entgegen seinem strengen Image umarmte er uns mit bescheidener, liebevoller Herzlichkeit und hieß uns willkommen. Lächelnd sagte er zu mir: „Du wirst aber auch nicht älter.“

Rıza Altun 2009 in den Bergen

Besuch unter schwierigen Sicherheitsvorkehrungen

Bei der Darstellung von Liebe und aufrichtiger Zuneigung setzte er im Allgemeinen auf eine humorvolle Kommunikationsmethode. Jeder, der ihn kannte, konnte sich damit identifizieren. Zunächst bot er uns kühles Wasser und anschließend Tee an. „Seht mal, das ist Bio-Wasser, das ihr in Europa nur selten findet und für das ihr viel bezahlt“, sagte er lächelnd und fügte hinzu, dass sie es nicht aus Flaschen, sondern direkt aus der Quelle beziehen. Während ein anderer Guerillakämpfer uns einen mit demselben Wasser zubereiteten „Guerilla-Tee“ anbot, sagte er: „Ihr habt Glück, heute fliegen keine Drohnen über der Qendîl-Region. Deshalb können wir ein Feuer machen und euch unseren Tee anbieten.“ Der „Guerilla-Tee“ ist ein Schwarztee wird in einem Kessel über einem Holzfeuer gekocht. Da der Rauch des Feuers darauf hindeutet, dass sich dort Kämpfer:innen aufhalten könnten, werden diese Feuerstellen zu Zielen der Drohnen. Während wir Tee tranken, stellte er Fragen, um die Gruppe kennenzulernen. Denn außer mir kannte er meine aufgeregten Freunde noch nicht. Dabei betonte er, wie wichtig die Gruppe sei, die aus Europa in die Berge gekommen war, um über die Revolution in Kurdistan zu forschen und zu berichten. Denn über die Sicherheitsbedrohung hier bei der Guerilla hinaus, ist das Interesse an diesem Thema aufgrund der internationalen Kriminalisierung der kurdischen Befreiungsbewegung begrenzt.

Die Gruppe der Kampagne „TATORT Kurdistan“ aus Deutschland war begeistert, dass ihr Antrag auf ein Treffen mit einem wichtigen Vorreiter der kurdischen Revolution angenommen wurde. Wir wollten das Treffen mit einem Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civakên Kurdistanê, KCK) durchführen, der Dachorganisation der Revolution in Kurdistan. Als wir erfuhren, dass Rıza Altun teilnehmen würde, waren wir überglücklich. Er war gleichzeitig auch für das Komitee für Außenbeziehungen der KCK verantwortlich, das er seit 2012 maßgeblich mitaufgebaut hatte. Zu seinen Aufgaben gehörten neben diplomatischen Tätigkeiten insbesondere die Vertretung der ideologischen und politischen Position der Befreiungsbewegung Kurdistans nach außen. In seinen Interviews bot er neben ausführlichen Analysen über die politischen Entwicklungen in Kurdistan und dem Mittleren Osten auch philosophische Perspektiven für Widerstandskämpfer:innen und Sozialist:innen weltweit. Das war auch der Ausgangspunkt unserer Gruppe. Mit großer Bewunderung und Interesse haben wir über fünf Stunden „Heval“ Rıza zugehört und wollten gar nicht wieder gehen.

In der Pause gab es inmitten der Berge zubereitet ein leckeres Essen für uns Gäste. Erst nachdem wir uns sattgegessen hatten, sagte er der Gruppe, dass er selber mitgekocht hatte. Für die Gruppe war das eine Überraschung, für mich eine Bestätigung. Seine selbstlose Art jenseits hierarchischen Denkens kenne ich aus den Jahren 2002 bis 2007 aus Paris und von verschiedenen anderen Zusammenkünften in den darauffolgenden Jahren.

Rıza Altun (r.) und Abdullah Öcalan im Jahr 1977

Kurdistan: Revolution inmitten großer Schwierigkeiten

Das intensive Gespräch wurde dann auf Deutsch mit dem Titel „Unsere strategischen Bündnispartner sind die anti-systemischen Kräfte dieser Welt“ als Broschüre veröffentlicht. Darin werden die strukturelle Krise des Kapitalismus, die politischen Verhältnisse weltweit und Herausforderungen des Internationalismus aus Sicht der Befreiungsbewegung Kurdistans ausführlich geschildert. „Keine Revolution ist so schwer wie unsere in Kurdistan. Niemand hat behauptet, wir seien besonders toll oder herausragend. Denn wir kämpfen mit den größten Schwierigkeiten der Welt und versuchen, durch die interessantesten Ansätze einen Weg für die Revolution zu ebnen“, sagte er mit Blick auf die Entwicklung in Westkurdistan (Rojava) im Zuge des Arabischen Frühlings und des darauffolgenden Aufstands gegen das Assad-Regime in Syrien im Jahr 2011. Dort, in den mehrheitlich kurdischen Gebieten im Norden und Osten Syriens, wurde im Revolutionsprozess eine Selbstverwaltung organisiert, die international unter dem Namen „Rojava“ bekannt ist.

Die Rojava-Revolution ist eine Errungenschaft des Befreiungskampfs. Das dort aufgebaute politische Gesellschaftsmodell basiert auf der gemeinsamen Kraft der Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Armenier:innen, Ezid:innen und die vielen anderen ethnischen Gruppen der Region. Die Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ist eine Weiterentwicklung dieses Durchbruchs im andauernden Kriegsprozess in Syrien. Dabei ist das Konzept des demokratischen Konföderalismus, dass die Selbstorganisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen und die Freiheit der Frauen fördert, der Herzschlag.

Vorher war es für die Befreiungsbewegung sehr schwer, ihr Ziel international angemessen selbst zu beschreiben und Aufmerksamkeit zu erlangen. Während die türkische Regierung den Aufstand mit allen möglichen illegitimen Mitteln bekämpfte, forderte sie als „legitimer” staatlicher Partner im Gegenzug für geostrategische, wirtschaftliche und politische Zugeständnisse international die Kriminalisierung der PKK. Dadurch wurden in der Mainstreampolitik und den Mainstreammedien Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern. Auch wenn diese Umkehrung ein großes Hindernis für den Befreiungskampf darstellt, lassen sich die Widerstandskämpfer:innen davon nicht beeinflussen, weil sie von ihrer Idee überzeugt sind. Mit leuchtenden Augen drückte Rıza Altun seine Überzeugung aus: „Der Kampf ist von Schwierigkeiten geprägt, doch das Aufregendste an all diesen Schwierigkeiten ist die Suche nach der Freiheit selbst. Diese Suche ist atemberaubend.“

Für die anti-systemischen Kräfte und insbesondere für die Sozialist:innen dieser Welt war und ist Rıza Altun ein Hoffnungsträger und Hoffnungsgeber, der durch sein Leben ein außergewöhnliches Beispiel dafür abgab, wie man gegen Ausgrenzung und Unterdrückung kontinuierlich Widerstand leisten kann. Die bisherige Geschichte des Befreiungskampfs Kurdistans, angeführt von Abdullah Öcalan, ist auch seine Geschichte, in der er als treuer Weggefährte eine wichtige Rolle gespielt hat.

Im Knast mit Muzaffer Ayata (l.) und Sabri Ok (r.)

Geschichte in der Geschichte

Die 1978 gegründete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die den Kern der gesamten Befreiungsbewegung Kurdistan bildet, erklärte am 12. Mai 2025, dass ihre Mitbegründer Rıza Altun und Ali Haydar Kaytan gefallen sind und verkündete zudem ihre Auflösung sowie das Ende des bewaffneten Kampfes. Das geschah, nachdem die Befreiungsbewegung Kurdistans einen erneuten Friedensprozess mit dem türkischen Staat initiiert hatte. Gleichzeitig ist die Befreiungsbewegung dabei, die Form und Institutionalisierung ihres Kampfes neu zu bestimmen. Die PKK hat in dem halben Jahrhundert ihres Kampfes die Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes durchbrochen und den sozialen und politischen Wandel vorangetrieben. Dabei ist die Führungsrolle Abdullah Öcalans, der am 15. Februar 1999 durch ein internationales Komplott verschleppt wurde und seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali in Gefangenschaft ist, bestimmend.

Das Manifest, das an den 12. Kongress der PKK gerichtet war, enthielt folgende Perspektive von Öcalan: „Die PKK ist eine Bewegung, die die Realität Kurdistans sichtbar macht und ihre Existenz unzerstörbar macht. Der nächste Schritt ist die Erlangung der Freiheit. Die freie Gesellschaft wird auf der Grundlage der Kommunalität und entlang einer moralisch-politischen Ausrichtung Gestalt annehmen. Die Verwirklichung dieses Schrittes scheint mit der PKK nicht möglich zu sein.“ Auch wenn es noch der rechtlichen und offiziellen Anerkennung bedarf, ist spätestens nach dem aktuellen Friedensprozess, bei dem Öcalan als „Hauptverhandler“ fungiert, folgendes von ihm zu lesen: „Die Existenz der Kurd:innen wurde anerkannt, somit ist das Hauptziel erreicht.“

Bei der Umsetzung seiner Ziele – eine Existenz jenseits von Verleugnung, Unterdrückung und Assimilierung sowie eine freiheitliche, demokratische, ökologische und auf der Freiheit der Frauen basierende Zukunft der kurdischen Gesellschaft in den jeweiligen Staaten, in denen sie lebt – wird durch seine Bewegung mit allen nötigen Schritten unterstützt. Dies wurde bei dem 12. und somit letzten Kongress der PKK bestätigt.

… dauerhafte Wegweiser: Altun und Kaytan

Öcalan hat von der Gefängnisinsel Imrali aus in einer Kondolenzbotschaft für seine beiden Weggefährten erklärt: „Ihr Platz in unserem Kampf um nationale Existenz und demokratische Kommunalität ist dauerhaft. Auch im neuen Paradigma und dessen Institutionalisierung werden sie als Vorreiter mit grundlegenden inspirierenden Werten ihre Rolle auf ewig erfüllen. Als dauerhafte Wegweiser werden sie in unserem Kampf weiterleben und lebendig gehalten werden.”

Öcalan und Ali Haydar Kaytan, der am 3. Juli 2018 durch einen Angriff ums Leben kam, lernten sich 1972 in Ankara während ihres Studiums kennen. Seine Rolle in der kurdischen Freiheitsbewegung, auf das wir in einem anderen Beitrag genauer eingehen wollen, ist genauso wichtig, vielfältig und lehrreich wie die von Altun. In den darauffolgenden Jahren zogen sie weitere Weggefährten aus der Studentenbewegung zu sich, darunter Haki Karer, Kemal Pir und Duran Kalkan, allesamt türkischen Ursprungs, sowie die Kurden Mazlum Doğan, Mehmet Hayri Durmuş, Cemil Bayık, Mustafa Karasu und Rıza Altun, der in Tuzluçayır lebte. Tuzluçayır, ein Armenviertel Ankaras, war damals als das „kleine Moskau“ bekannt, weil sich hier viele Linke sowie kurdisch-alevitische Familien wie die Altuns niedergelassen hatten. Es war ihr dritter Umzug in einem Land, in dem sie „heimatlos“ waren. Aufgrund wirtschaftlicher Not und Konflikten mit nationalistischen Türken aus den Nachbardörfern musste Rıza Altun im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie aus dem Dorf Küçüksöbeçimen in Sarız bei Kayseri wegziehen. Dort wurde er 1954 geboren. Wie die anderen Dorfbewohner:innen wurde seine alevitisch-kurdische Familie aus der Region Dersim und Sivas zwangsumsiedelt, weil sie sich gegen die Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung durch den türkischen Staat zur Wehr gesetzt hatte. Er war also schon damals mit einer Tradition des sich nicht Unterwerfens vertraut. Er gehört also zu den Menschen, die sich dafür entschieden haben, Assimilation und Unterdrückung abzulehnen.

…Dich immer gegen das Böse wehren

Zu Recht hatte seine Mutter Hatice, als er noch ein Kind war, den Weg gewiesen, den er als Rebell gehen sollte und ihn so auf sein späteres Leben vorbereitet: „Komm mir ja nicht weinend. Du musst dich immer gegen das Böse wehren, nur so kannst du auf den Beinen bleiben.“ Dieser Hintergrund war wohlmöglich auch der Grund, weshalb Rıza Altun sich so schnell in die Gruppe von „Freunden“ in Tuzluçayır einzubringen wusste, die er dort kennenlernte. In seinem Viertel war er der Anführer einer antifaschistischen Abwehrgruppe. Seine Führungseigenschaften hatten auch Kemal Pir beeindruckt. Die damals noch kleine Gruppe um Öcalan, der Kemal Pir angehörte, war zwar ideologisch und politisch stark, jedoch war Rıza Altuns Gruppe viel größer. Der theoretisch und ideologisch starke Kemal Pir versuchte, Altun zu überzeugen. Auf der anderen Seite versuchte Altun, ihn einzuordnen. Er war Türke und suchte im linken Tuzluçayır nach Kontakten und neuen Freund:innen. Um seine Zweifel auszuräumen und ihn zu testen, lud er ihn zu Aktionen gegen die Faschisten im Nachbarviertel ein. „Meine Skepsis war schnell verflogen, nachdem Kemal sich gegen die Faschisten mehr eingesetzt hatte als viele aus meiner Gruppe. Er war wie ein Prediger und gleichzeitig ein unbeugsamer Aktivist. Das hat mich inspiriert. Mit der Zeit begann ich, ihn zu bewundern, denn überall, wo er war, gab es Aktionen und Debatten.“

Hatice Altun

Kemal Pir war es auch, der Rıza Altun und Öcalan bekannt machte. Er wurde schnell in die Gruppe aufgenommen. Während dieser Zeit in Tuzluçayır waren Rıza Altuns Haus und seine Familie, insbesondere seine Mutter Hatice, so etwas wie eine Anlaufstelle für die Gruppe, die sich dort regelmäßig traf. Sie kochte und versorgte Rızas Freunde voller Liebe und Zuneigung.

Kern der Befreiungsbewegung bildet sich in Ankara

Sie hielten viele Treffen ab, suchten nach neuen Mitstreitenden. Sie hatten jedoch noch nicht die Idee der Gründung einer Partei oder eines bewaffneten Kampfs, um sich gegen die Unterdrückung der Kurd:innen und die Verleugnung ihrer Identität durch den Staat zur Wehr zu setzen. Vielmehr waren sie Mitte der 70er Jahre eine Gruppe von etwa 25 linken Studierenden und Jugendlichen, die in Ankara auf der Suche nach etwas Neuem waren – auf Basis des Sozialismus, aber in Kurdistan. So wie in anderen Teilen der Welt, sorgte auch in der Türkei die Linke zu dieser Zeit für Wirbel in der Politik. Im Frühjahr 1972 verloren die ideologischen Vorreiter der türkischen Linken, darunter Deniz Gezmiş und zwei seiner Weggefährten, ihr Leben durch die Todesstrafe. Mahir Çayan und seine Freunde, die damals gegen die Todesstrafe protestiert hatten, kamen vor der Vollstreckung der Todesstrafe bei einer militärischen Auseinandersetzung ums Leben. Dies hatte auch Öcalan beeinflusst, der damals bei einer Protestaktion festgenommen und sieben Monate in Haft saß.

Dennoch standen auch die Nachfolger dieser revolutionären Linken unter dem Einfluss der staatlichen Leugnung der Kurd:innen, was sich in verschiedenen Aspekten zeigte. Die Haltung der türkischen Linken war für Öcalan, der von Anfang an der natürliche Anführer der Gruppe der „Apoisten“ oder „Revolutionäre Kurdistans“ war, ein Dilemma. Der offensive Umgang mit diesem Dilemma brachte die Gruppe in den folgenden Jahren in Schwung und trug in Kurdistan, das Öcalan aufgrund der staatlichen Politik als „Kolonie” bezeichnete, dazu bei, dass die Gruppe schnell große Unterstützung gewann.

…Verbundenheit, Liebe und Unentbehrlichkeit als Charakter

Damals hatten sie eine Idee, aber nicht die ausreichenden finanziellen und materiellen Ressourcen, um ihre Umsetzung zu organisieren. Die ideologische und philosophische Idee der Befreiungsbewegung Kurdistans, die heute von Millionen Menschen unterstützt wird, wurde damals, in den Jahren 1973–1978, von dieser Kerngruppe entwickelt. Von ihr sind heute nur noch wenige Mitglieder am Leben.

Rıza Altun wies auf die Schwierigkeiten dieser Zeit hin und betonte dabei die Besonderheit der Freundschaft: „In der Gruppe musste jeder ständig alles von sich geben, um etwas Ganzes zu schaffen. Wir konnten uns weiterentwickeln, indem wir alles gegeben und uns aufgeopfert haben. Das hat bei uns ein ganz besonderes Gefühl und eine besondere Stimmung hervorgerufen. Die wichtigsten Merkmale unserer Gruppe waren Verbundenheit, Liebe und Unentbehrlichkeit unter Freunden. Diese Eigenschaften prägten später auch den Charakter und den Geist unserer Befreiungsbewegung.“

Im Mai 1977 wurde Haki Karer, der die Idee der „Apoisten“ in die kurdischen Städte getragen hatte, durch ein Komplott in Dîlok (Antep) ermordet. In Ankara war die Gruppe nicht bewaffnet und hatte mit Mühe ein paar Pistolen für den Selbstschutz. Der Zufall wollte es, dass Altun diese besorgen konnte. Karer war der erste gefallene Weggefährte der Apoisten und eine zentrale Identifikationsfigur der darauffolgenden Befreiungsbewegung Kurdistans. Öcalan bezeichnete ihn mit großer Würdigung als seine „geheime Seele“.

Die Pressekonferenz zur Waffenstillstandserklärung in Beirut

…völlig unabhängige und voll befugte Gruppe von Rıza Altun in Antep

Nach Haki Karers Tod kam Öcalan zu der Überzeugung, dass nur die Gründung einer Partei seinem Andenken gerecht werden könne. Er verfasste daraufhin den Programmentwurf für die PKK, die am 27. November in der Nähe der Stadt Amed (Diyarbakır) gegründet wurde. Doch zuvor gab es eine andere Aufgabe: Rache. Dafür war Rıza Altun wie geschaffen, der sich in Amed von einem schweren Unfall erholte. Hier sagte Öcalan zu Rıza Altun: „Du musst nach Antep gehen.“ Dort hatten die feindseligen Faschisten sowie die konkurrierende türkische Linke ihre Angriffe gegen die Apoisten verstärkt.

Er war auch zuvor in Dîlok in der Organisation tätig gewesen, aber sein zweiter Besuch hatte etwas Besonderes, das er wie folgt beschrieb: „Aufgrund der heftigen Angriffe konnten unsere Freunde in Antep nicht nach draußen gehen und sich nicht frei bewegen. Der Druck war enorm. Nach der Ermordung unseres Freundes Haki herrschte eine vom Staat geschaffene düstere Atmosphäre. Unser Anführer Öcalan sagte: ‚Wir dürfen diese Situation nicht länger hinnehmen. Bildet eine Gruppe und kämpft dagegen.‘“ Daraufhin bildet er eine fünfköpfige Gruppe aus vertrauten Freunden: Dazu sagte er: „Es war eine völlig unabhängige und vollkommen eigenverantwortliche Gruppe, die sich von den politischen und organisatorischen Gruppen unterschied. Wir mussten einen regelrechten Verteidigungskampf führen, aber brauchten große Waffen wie Kalaschnikows. Um die Angriffe abzuwehren, mussten wir also einen noch furchterregenderen Angriff starten. Damals hatte unsere Gruppe nur eine Kalaschnikow, die wir dort einsetzten, wo sie gerade benötigt wurde. Wir brachten sie nach Antep. Als wir unsere vorhandenen Waffen damit aufstockten, wurden wir praktisch unbesiegbar. Innerhalb von drei Monaten wurde alles getan, was getan werden musste. Die Lage in Antep hat sich normalisiert. Mitte 1978 ordnete unser Anführer an, die Aktionen einzustellen.“

…ins Visier des türkischen Staates

Auch damals hat die Gruppe noch nicht die Absicht gehabt, einen bewaffneten Kampf zu führen. Vielmehr ging es darum, sich politisch zu behaupten. In diesem Sinne trafen sie Vorkehrungen für die Gründung einer politischen, sozialistischen Partei, die sich für die Rechte der Kurd:innen einsetzen sollte.

Mit der Gründung der PKK geriet die Gruppe ins Visier des türkischen Staates. Gleichzeitig tobte das Militär im Land, sodass es am 12. September des darauffolgenden Jahres (1980) einen Militärputsch gab. Bereits zuvor waren durch verschiedene Operationen im Sommer 1979 dutzende führende Kader inhaftiert worden, darunter auch Mazlum Doğan, Kemal Pir, Mehmet Hayri Durmuş, Mustafa Karasu und Rıza Altun.

Der Militärputsch führte zu einer gewaltsamen Repressionswelle gegen linke, oppositionelle und fortschrittliche Kräfte. Es gab über 600.000 Festnahmen, Tausende Folteropfer und über 170 Tote. Zehntausende Menschen flohen ins Ausland. Die Regierung wurde abgesetzt, alle Parteien verboten und eine faschistische Militärjunta unter Kenan Evren etabliert. Die Folgen des Putsches prägen bis heute die Politik in der Türkei und haben das Fundament für eine demokratische Ordnung im Land nachhaltig erodiert.

…Widerstand im Gefängnis

Im „Gefängnis Nr. 5“ in Amed, das von der Times zu den „zehn berüchtigtsten Gefängnissen der Welt“ gezählt wird, wurden 1980 und in den Folgejahren zahlreiche PKK-Kader und Sympathisant:innen inhaftiert. Nicht umsonst trägt dieser Ort den Namen „Die Hölle von Diyarbakır“. Sadistische Militärangehörige versuchten, die politischen Gefangenen mit brutalen Foltermethoden zum Aufgeben zu bringen. Altun sagte dazu „Sie waren menschenähnlich, aber nicht Menschen. Sie haben uns gefoltert, und das auf eine Art und Weise, die der menschliche Verstand nicht ertragen kann.“ Doch er und seine Weggefährt:innen ließen sich nicht brechen. Mazlum Doğan, der gemeinsam mit Altun zu den Vorreitern der Befreiungsbewegung in Ankara zählt und als Vorbild betrachtet wird, war dafür bekannt, dass er für seine Überzeugungen und seinen Widerstand im Gefängnis von Diyarbakır einstand. Dort opferte er am 21. März 1982 sein Leben, um ein politisches Zeichen zu setzen.

Aus Protest gegen die unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis von Diyarbakir begannen die Vorreiter Kemal Pir, Hayri Durmuş, Akif Yılmaz und Ali Çiçek am 14. Juli 1982 ein Todesfasten. Sie forderten das „Ende der Folter, der eingeforderten Militärdisziplin und der Einheitskleidung“. Mit dieser Aktion, die als erster Funke des Widerstands gilt, sollte nicht nur auf die Situation in den Gefängnissen aufmerksam gemacht werden. Vielmehr sollte damit auch ein revolutionäres Zeichen an die Menschen außerhalb der Gefängnismauern gesendet werden, um den Kampf gegen die faschistische Militärjunta neu zu entfachen. Im Verlauf dieser Aktion verloren Kemal Pir, Mehmet Hayri Durmuş, Ali Çiçek und Akif Yılmaz ihr Leben. Dieser Widerstand im Gefängnis Nr. 5 von Diyarbakir verstärkte den Rückhalt beim Volk und begründete die Kultur des „Widerstands des 14. Juli“, die der Befreiungsbewegung noch heute die Richtung gibt.

… ‚steht aufrecht da!‘

Die Widerstandsaktionen seiner engen Weggefährten, darunter Kemal Pir und Mazlum Doğan im Gefängnis, sowie die Organisation außerhalb, brachten Altun neue Verantwortung. Unter den gegebenen Umständen übernahm er die Leitung der Gefangenen und nahm an vielen darauffolgenden Hungerstreikaktionen teil. Er wurde in mindestens acht verschiedene Gefängnisse in der Türkei verlegt, wo seine Mutter ihn überall mit Mühe zuerst finden musste, um ihn dann besuchen zu können. Sie war wie ein Schutzengel, immer an seiner Seite, wenn er mit Schwierigkeiten konfrontiert war. Überall, wo er war, war er Teil der Bewegung, die gegen die Militärdiktatur aktiv war und wurde somit zu einer Symbolfigur des Gefängniswiderstands. Mit Mut, Witz und ungebrochener Entschlossenheit kämpfte er darum, seinen Mitgefangenen Würde, Hoffnung und seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Rückblickend erzählte er: „Sie versuchten, uns mit Folter und Beleidigungen zu brechen. Eines Tages wollten sie uns Einheitskleidung auferlegen. Ich war einer der Verantwortlichen. Zunächst brachten sie mich weg und folterten mich. Danach versammelten sie alle anderen Häftlinge im Hof. Sie warfen mich vor allen anderen zu Boden. Der Gefängnisdirektor warf mir die Kleidung vor die Füße und sagte: ‚Rıza, ab jetzt werdet ihr diese Kleidung tragen, und wir fangen mit dir an.‘ Mir lief Blut aus dem Mund. Ich konnte meine Augen kaum öffnen und sagte zu den anderen Häftlingen: ‚Ich werde es nicht tragen. Und ich werde mich mit denjenigen auseinandersetzen, die es tragen.‘“ Seine Genossen organisierten gemeinsamen Widerstand – nicht aus Angst, sondern um ihm gegenüber keine Scham zu empfinden. Altuns ungebrochener Wille führte zum Erfolg: „Tatsächlich habe ich so die Umstellung auf die Einheitskleidung verhindert, aber dafür wurde ich so lange gefoltert, dass ich tagelang bewusstlos war“, berichtete er weiter.

Während seiner gesamten Zeit im Gefängnis entschied sich Heval Rıza, nicht aufzugeben, sondern stets aufrecht zu bleiben und voranzuschreiten. Er fasste den Mut, dort weiterzumachen, wo andere sagten, es sei vorbei oder unmöglich. Für ihn gab es immer einen Weg, den es zu versuchen galt, um sein Ziel zu erreichen, und er lehrte seine Mitgefangene dasselbe. Darin lagen seine Besonderheit und Kraft. Abdullah Kanat, der acht Jahre lang mit Rıza Altun im selben Gefängnissen saß, sagte: „Altun war ein Freund, der eine Vorreiterrolle einnahm und keine Kompromisse machte.“ Ein weiterer Zellengenosse, Mahmut Manas, beschrieb Altun mit den Worten: „Seine Widerstandskraft und seine Haltung haben uns immer Mut gemacht. Er sagte uns immer: ‚Steht aufrecht da!‘

…1984 startet der bewaffnete Kampf

Die Widerstandsgeschichte im Gefängnis hat ohne Zweifel den weiteren Verlauf der kurdischen Freiheitsbewegung außerhalb der Gefängnismauern geprägt. Draußen hingegen hatte Öcalan 1979 Nordkurdistan verlassen, und war über Kobanê in Westkurdistan in den Libanon aufgebrochen. Die durch zahlreiche Inhaftierungen geschwächte Bewegung versuchte sich politisch zu organisieren. Damals war die fortschrittliche palästinensische Bewegung für viele internationale Bewegungen ein Sammelort, an dem Ideen und Erfahrungen ausgetauscht wurden. Davon machte auch die PKK Gebrauch und organisierte sich ab 1982 militärisch in der von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene im Libanon, wo sie ein Ausbildungslager aufbaute. Am 15. August 1984 startete die PKK einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee, was die Türkei Ende der 1980er Jahre politisch und militärisch in Schwierigkeiten brachte. Der Guerillakrieg der PKK durchbrach die Verleugnungspolitik des türkischen Staates. Er sorgte im In- und Ausland für Schlagzeilen und Debatten über die kurdische Frage bzw. den Konflikt. Die geflüchteten Kurd:innen organisierten sich insbesondere in Europa und brachten das Thema mit großen Demonstrationen auf die internationale Bühne. Die Rückendeckung der kurdischen Bevölkerung für die PKK und umgekehrt die internationale staatliche Unterstützung für den türkischen Staat wurden von Tag zu Tag größer.

Die NATO unterstützte ihren Partner vollumfänglich, was auch die Kriminalisierung des Befreiungskampfs der PKK einschloss. Aufgrund der sich verstärkenden militärischen Aktionen der PKK wurde 1987 unter der Regentschaft Kenan Evrens in den kurdischen Provinzen der Türkei der Ausnahmezustand ausgerufen, der 15 Jahre lang ununterbrochen andauerte. Um zu versuchen, der PKK den gesellschaftlichen Rückhalt zu entziehen, wurden in diesen Jahren mehr als 4.000 kurdische Dörfer vom türkischen Militär zerstört oder zwangsgeräumt. Tausende „unaufgeklärte“ Morde wurden verübt, etliche Menschen verschwanden und Millionen Kurd:innen wurden durch systematische ethnische Säuberungen nach Europa und in die Metropolen der Türkei vertrieben. Dokumentationen unzähliger Massaker, Vergewaltigungen, Folterungen und Verhaftungen sind in den Dokumenten von Menschenrechtsorganisationen, etwa beim Menschenrechtsverein IHD, nachzulesen.

…Rıza Altun kommt frei und die PKK ist auf der Suche nach einer Lösung

Bis 1989 war Turgut Özal unter der faschistischen Militärjunta von Kenan Evren formal der Ministerpräsident. Am 31. Oktober 1989 wurde er durch das Parlament zum zivilen Staatspräsidenten gewählt. Um die kurdische Frage in seinem eigenen Land zu entschärfen, betonte er, dass seine Großmutter Kurdin gewesen sei, und versuchte gleichzeitig, über verschiedene Kanäle und Möglichkeiten mit der PKK eine Waffenruhe zu verhandeln. Während seiner ersten Amtszeit ließ er mehrere politische Gefangene, darunter Rıza Altun und Mustafa Karasu, im Jahr 1992 frei. Das stand jedoch im Zusammenhang mit der damaligen politischen Konjunktur und war der Versuch, ein politisches Zeichen zu setzen. Da Altun zur Todesstrafe verurteilt worden war, hielt er die Nachricht von seiner Freilassung zunächst für einen Scherz. Immer wieder brachte er seine Freunde im Gefängnis mit Scherzen und Humor zum Lachen. Deshalb dachte er, dass es sich bei der Nachricht um einen Witz als Reaktion auf seine Scherze handeln musste. Als die Gefängnisbeamten die Entscheidung verlasen und seine Mitgefangenen daraufhin in Tränen ausbrachen, wurde ihm der Ernst der Situation bewusst.

Nach seiner überraschenden Freilassung im Jahr 1992 verließ Altun schnell die Türkei und ging an die kürzlich eröffnete Parteischule in Damaskus, die von Abdullah Öcalan geleitet wurde. Das politisch und historisch konkurrierende Nachbarland gewährte hier Raum für eine Akademie der PKK, die sich im militärischen Konflikt mit der Türkei befand. Zuvor hatte sich diese Einrichtung zehn Jahre lang in der libanesischen Bekaa-Ebene befunden, bis sie aufgrund des Drucks der Türkei und der USA geschlossen wurde und die PKK das Land verlassen musste.

Altun beschreibt diese Zeit mit folgenden Worten: „Damals wohnte unser Anführer Apo (Öcalan) in einem Hochhaus in Aleppo. Als wir mit Mustafa Karasu dort ankamen, kam er zum Eingang herunter und empfing uns mit großer Freude und Umarmungen. Er sagte, ‚es ist bedeutungsvoll, dies erreicht zu haben.‘ Nach einer Weile gingen wir gemeinsam nach Damaskus in die Akademie, wo wir zusammenblieben, diskutierten und arbeiteten. Karasu ging später als Verantwortlicher nach Europa, aber ich blieb noch lange dort. Ich war dort an vielen Tätigkeiten beteiligt, insbesondere an diplomatischen Arbeiten, bis ich als Verantwortlicher in den Iran ging.“ Altun wurde, wie zu Anfangszeiten in Ankara, Teil des engsten Kreises, begleitete diplomatische Gespräche im Namen der Bewegung und war an der Vorbereitung des ersten Waffenstillstands im Jahr 1993 beteiligt. Zudem nahm er an der Presseerklärung mit Öcalan am 20. März in der libanesischen Hauptstadt Beirut teil, in der die PKK (über verschiedene Vermittler) eine politische Lösung mit dem ebenfalls um eine Lösung bemühten türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal anstrebte. Dieser starb jedoch unter mysteriösen Umständen genau am 17. April 1993 – dem Tag, an dem er auf den Waffenstillstand reagieren wollte.

…Konflikt verlagert sich erneut auf die militärische Ebene

Damit wurden die Bemühungen um einen Waffenstillstand und eine politische, friedliche Lösung offensichtlich sabotiert. In diesem Machtvakuum verlagerten die politischen Verantwortungsträger der Türkei den Konflikt erneut auf die militärische Ebene. Der NATO-Mitgliedsstaat Türkei und sein Militärapparat konnten mit weiterer NATO-Unterstützung die Oberhand im Konflikt gewinnen. Dazu wurden alle möglichen Zugeständnisse politischer, wirtschaftlicher und geostrategischer Natur gemacht. Im Gegenzug wurde der Widerstandskampf der PKK in vielen Ländern kriminalisiert und durch die Listung als terroristische Organisation (zuerst in den USA und ab 2002 in der EU) die Partei verteufelt. Die internationale Gemeinschaft betrachtete die PKK allein durch die Brille des türkischen Nationalismus und der türkischen Staatsdoktorin. Die Wahrheit wurde durch systematische Hetze und Antipropaganda in Medien und Politik bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Dennoch hielten Öcalan und die PKK an ihrer Suche nach Ansprechpartnern in der türkischen Politik fest. Öcalan versuchte mit großer Ausdauer das Problem mit politischen und friedlichen Mitteln zu lösen. Als dies nicht gelang, bemühte er sich sogar, die Angelegenheit auf die internationale Bühne zu bringen. Bevor er am 15. Februar 1999 im Rahmen eines internationalen Komplotts von NATO-Mitgliedern und Regierungen der Länder USA, Israel, Griechenland, Kenia, der Türkei und deren Geheimdiensten von Kenia aus in die Türkei verschleppt wurde, hielt er sich auf der Suche nach internationaler Unterstützung für eine politische Lösung monatelang in Italien auf.

In dieser Zeit war Altun immer dort, wo die Bewegung ihn brauchte. Mal war er Diplomat und Vertreter der Bewegung im Libanon, im Iran und Irak, mal Politiker mit gesellschaftlicher Verantwortung wie beispielsweise beim Aufbau des Flüchtlingslagers Mexmûr im Nordirak und im europäischen Exil, ein andermal war er wieder ideologischer Ausbilder und Guerillakommandant in den Bergen Kurdistans.

…inspirierende Bildung und Gesellschaftspolitik in Europa

Rıza Altun war einer der führenden Vorreiter und vermittelte ab 2001 die Ideen der Befreiungsbewegung in den kurdischen Organisationen Europas. Er war das Bindeglied zwischen der Jugend- und Frauenbewegung sowie den Organisationsstrukturen im Exil und gab ihnen eine ideologische und politische Richtung. Bei einem Seminar im Jahr 2004 in Paris war ich einer der zahlreichen Teilnehmer:innen, die von seinem Vortrag inspiriert wurden. Er betonte, wie wichtig es ist, sich politisch gegen das überall wütende Böse zu engagieren, und wie entscheidend es ist, persönliche Impulse zu setzen. Er gab auch Beispiele aus seinem eigenen Leben: „Eine intensive Selbstbildung ist erforderlich, um Selbstvertrauen in Denken und Handeln zu entwickeln. Revolutionäre Individuen, die selbstbewusst handeln und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, können Prozesse mitbestimmen, egal wie schwierig die Lage ist, in der sie sich befinden.“ Er sprach viel über den Widerstand im Gefängnis, da dies ein Wendepunkt im Kampf war. Immer, wenn er über Kemal Pir sprach, war seine Bewunderung spürbar. Seine Augen glitzerten und er bezeichnete ihn als eine Schule, die ihn sehr geprägt hat. Als junger Journalist hatte ich das Glück, ihn mehrmals zu treffen und ihm Fragen stellen zu können. Dabei sprach er ausführlich über die Geschichte der Befreiungsbewegung und ihre internationalen Aspekte, die aufgrund der Kriminalisierung leider zu wenig Aufmerksamkeit erhielten. In Europa konnte ich ihn zuletzt 2007 treffen, bevor er wieder in die Berge Kurdistans ging.

…Widerstand überall, gegen alles, was dich vernichten möchte

Jahrelang habe ich versucht, von ihm Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Im Jahr 2015 hat er eine meiner Fragen beantwortet und dabei beschrieben, dass der Widerstand in Kobanê gegen den IS den Geist der Befreiungsbewegung in sich getragen hat: „Widerstand überall, gegen alles, was dich vernichten möchte, und das bis zur letzten Sekunde und Möglichkeit.“ Ich habe nur wenige Menschen getroffen, die sozial, politisch und theoretisch so überzeugend waren wie er. Das macht ihn für mich und viele andere zu einem ganz besonderen Revolutionär und Hoffnungsgeber.

Diese Überzeugungskraft hatte er maßgeblich gemeinsam mit seiner engsten Familie getragen. Alle drei Schwestern und vier Brüder waren oder sind selbst politisch aktiv und haben auch ihre Kinder davon überzeugt. Sein jüngerer Bruder Haydar (Kara Ömer) kam 1991 in Heftanîn als Guerillakommandant ums Leben, während Rıza Altun noch im Gefängnis war. Am bewaffneten Befreiungskampf nahmen drei seiner Neffen teil, von denen zwei gefallen sind: Salih Doğan Yıldırım (Cumaali) fiel 2005 in einem Gefecht mit der türkischen Armee, und Sinan Altun (Doğan) 2006 bei einem Artillerieangriff der iranischen Armee.

Als Antwort auf die systematische Kriminalisierung durch den türkischen Staat und seiner Verbündeten informierte das von Rıza Altun 2012 gegründete und geleitete Komitee für Außenbeziehungen der KCK die internationale Öffentlichkeit und Politik kontinuierlich über die Befreiungsbewegung in Kurdistan. Dies zog ebenfalls eine Reaktion des türkischen Staates nach sich, der ihn ins Visier nahm. Bei einem von drei Drohnenangriffe innerhalb eines Jahres wurde er verletzt, beim vierten am 25. September 2019 verlor er im Qendîl-Gebirge sein Leben.

Es zeigt sich ein klarer Widerspruch: Einerseits betonen internationale Staaten immer wieder, dass sie die Menschenrechte wahren wollen. Andererseits wurden die vom türkischen Staat eingesetzten Drohnen mit internationaler Unterstützung produziert. Bei den ersten beiden sowie weiteren Angriffen wurden mindestens sechs enge Weggefährten von Rıza Altun getötet, die aktiv im Komitee mitarbeiteten.

Cemil Bayık ist Gründungsmitglied der PKK und Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK. Er war einer der ersten Weggefährten Altuns aus Ankara, mit dem er in vielen Bereichen des Befreiungskampfs zusammengearbeitet hat. Bayık betonte im Nachhinein, der türkische Staat sei der Ansicht gewesen, dass es für seine mörderische Politik nicht gut wäre, wenn Altun und das Komitee ihre Arbeit fortsetzen würden. Deshalb habe man ihn gezielt angegriffen, weil er versuchte, die Entwicklungen in Kurdistan und die Perspektive der Bewegung durch Öffentlichkeitsarbeit auf die internationale Agenda zu bringen. „Heval Rıza war ein großer Revolutionär, ein großer Sozialist und ein leidenschaftlicher Genosse, der sich von Hindernissen niemals abhalten ließ. (...) Er pflegte seine Kameradschaft mit Anführer Apo bis zu dem Tag, an dem er den Gefallenentod starb. Auf dieser Grundlage pflegte er auch eine beispielhafte Kameradschaft mit mir und vor allem mit den Freund:innen in der Bewegung. (...) Er war mein Weggefährte, und wir kämpften gemeinsam. Er hat mich beeinflusst. Ich habe mir vieles von ihm zum Vorbild genommen und werde dies auch weiterhin tun.“ Duran Kalkan, Mitglied des KCK-Exekutivrats, der seit den Anfängen der als Ankara-Gruppe bekannten Kerngruppe Weggefährte ist, beschreibt Altun wie folgt: „Er hat in den schwierigsten Umständen, an den Orten, die als unmöglich galten, mit großem Mut und Opferbereitschaft sowie mit Kreativität und Initiative einen großen Beitrag zur Gestaltung der Aktionslinie unseres Kampfes geleistet und sich gegen alle möglichen Gegner durchgesetzt.“

…die Freunde:innen und Heval Rıza

Mit seinem Humor und Witz war er ein Revolutionär, der die Tiefen und Schwierigkeiten des Lebens kannte, aber dabei nie seine Lebenslust verlor und deshalb bei seinen Freund:innen sehr beliebt war. Er versuchte, die Schönheit des Lebens im Zwischenmenschlichen zu schützen, selbst wenn die Umstände schwierig waren. Wie schwierig das Leben als Revolutionär sein kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Immerhin giltst du als jemand, den der Staat am liebsten tot sehen will. Rıza Altun sagte: „Man muss sich ihnen entgegenstellen, und Humor ist dafür ein gutes Mittel.“ Er gestaltete die Politik nicht streng und unangenehm, sondern mit Freude, Überzeugung und Kreativität.

Egal wo er war, er war der charismatische und beliebte „Heval” Rıza. Auf Kurdisch bedeutet „Heval” so viel wie „Freund”, umfasst aber mehr. Im Zuge des Befreiungskampfs wurde der Begriff zum Synonym für die zehntausenden Kader der PKK, die ihr Leben der Revolution widmeten. Aufgrund ihrer sozialistischen Weltanschauung sind sie gegen Nationalismus, Rassismus, patriarchale Gesellschaftsformen und insbesondere gegen Kapitalismus. Sie haben kein Interesse am Materiellen, verfügen über kein Geld und besitzen auch sonst nichts, sind aber reich an Idealen, Ideen und der Motivation, diese umzusetzen. Es ist daher ein großes Verdienst und eine Würdigung, wenn die Menschen, die ihnen folgen, dies so ausdrücken: „Nicht nur, was sie sagen, sondern auch, wie sie leben, überzeugt uns.“ Seine Mutter Hatice sagte einmal: „Wenn die Freund:innen zu uns nach Hause kamen, dachten wir, die Engel würden uns besuchen.“

Wie Heval Rıza waren sie immer dann zur Stelle, wenn Menschen aus Elendsverhältnissen und Unterdrückung keinen Ausweg mehr wussten. Zehntausende haben ihr Leben verloren, um die Verhältnisse zu verändern und Raum für Freiheit und Würde zu schaffen. Während der Jahre des Befreiungskampfes entwickelten die Freund:innen eine eigene Widerstandskultur, ein ethisches Verständnis von einem freien, würdevollen und gleichberechtigten Leben. Sie versuchen diese Kultur und diese Grundsätze in ihrem Alltag zu leben. Heval Rıza war und ist ein kompromissloser Vorkämpfer dieser neuen Widerstandskultur in Kurdistan.

In einem Gespräch erklärte Heval Rıza, dass sie selbst ebenso überrascht waren wie der türkische Staat und die Welt über die Ergebnisse ihres Kampfes: „Damals noch in Ankara konnten wir uns die heutigen Entwicklungen nicht vorstellen. Unser Schlüsselbegriff ist Widerstand. Wir haben uns dafür entschieden, überall und gegen alles, was falsch ist, Widerstand zu leisten. Das kam in Kurdistan an, wo uns Millionen von Menschen mit all ihren Möglichkeiten unterstützt haben. Wir haben eine Revolution in Kurdistan durchgeführt, die viele andere revolutionäre Prozesse wie die der Frauen, der Völker und des demokratischen Konföderalismus beinhaltet.“

…45 Jahre ununterbrochener revolutionärer und widerständiger Kampf

Im Alter von 65 Jahren endete sein Leben durch einen feindlichen Angriff. Davor lagen 45 Jahre ununterbrochener revolutionärer und widerständiger Kampf. Dabei handelte es sich nicht um an einen bestimmten Ort gebundene revolutionäre Handlungen, sondern um ein Leben, das alle Orte übersteigt – ein strömendes Leben voller Liebe, Widerstand und Würde.

Wenn man sich mit der Geschichte der Freund:innen und ihrem Befreiungskampf in Kurdistan intensiver beschäftigen möchte, sind das Leben und der Kampf von Heval Rıza ein faszinierender Ausgangspunkt dafür. Er war ein Widerstandskämpfer, der den entmutigten Menschen seiner Epoche in Kurdistan Hoffnung gab. Er war ein wandernder Guerillakämpfer und leistete Widerstand, wo alles verloren schien.

Er bot seinen Gegnern überall, wo er kämpfte, die Stirn. Sein Leben, das mit der Entwurzelung begann, endete dort, wo es für ihn am meisten Bedeutung trug – in den Bergen Kurdistans. Und die Berge waren für ihn nicht nur Symbol, sondern Notwendigkeit, sie wurden zum Ort höchster Selbstverwirklichung: „Die Berge geben uns die Möglichkeit, wahrhaft frei zu sein. Sie sind nicht nur Rückzugsort, sie sind Voraussetzung für unseren Freiheitskampf. Für viele von uns wurden sie zu einem unverzichtbaren Lebensraum – zu einem Lebensstil.“ Was er in Worten, Taten, Begegnungen und Ideen hinterlassen hat, bleibt. In den Herzen, im Bewusstsein, im Widerstand.

Er zog seine ganze Familie sowie alle anderen Menschen, mit denen er in Kontakt kam, mit großer Überzeugung in den Widerstand mit ein. Er ist ein großartiges Beispiel für Menschen, die ein „lebendiges“ Leben führen wollen. Um die Menschheit zu lieben und die miserablen Umstände von Unterdrückten zu ändern, braucht man einen solchen Charakter wie den von Heval Rıza. Weise Menschen haben recht, wenn sie sagen, dass materieller Besitz nur in der materiellen Welt bleibt, denn schlussendlich kommt es darauf an, was für ein Leben der Mensch gelebt und was er in den Köpfen und Herzen seiner Mitmenschen hinterlassen hat. Aus dieser Perspektive hat sich Heval Rıza nie um materielle Güter gekümmert. Er besaß weder ein Haus noch ein Auto oder ein finanzielles Vermögen, sondern schuf mit seinem Leben und seinem Wirken eine ganze Kultur des Widerstands in Kurdistan. Ich habe versucht, Rıza Altun, den ich kennenlernen durfte und der eine bedeutende Rolle für mein Leben spielte, in diesem Text ein wenig den Leser:innen näherzubringen. Er hat in seinem bewegten Leben die Tradition von Che Guevara, Ho Chi Minh, Bobby Sands, Rosa Luxemburg, Thomas Sankara, Thomas Müntzer, Sakine Cansız, Antonio Gramsci und vielen anderen Revolutionär:innen fortgeführt.

…Revolutionär, Sozialist und universal gebildeter Intellektueller

So schrieb Antonio Gramsci eine seiner wichtigsten Ideen vor etwa 100 Jahren im faschistischen Gefängnis: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ Genauso begeisternd und inspirierend war Heval Rıza in seinem Leben und Kampf. Mit seiner tiefgreifenden Überzeugungskraft und Wissen übte er großen Einfluss auf jeden Menschen aus. Gramsci zufolge verfügen alle Menschen über intellektuelle Fähigkeiten, aber nicht alle nehmen die gesellschaftliche Rolle eines Intellektuellen ein. Als Revolutionär, Sozialist und universal gebildeter Intellektueller übte Heval Rıza eine unermüdliche gesellschaftliche Funktion im Befreiungskampf aus.

In einem ausführlichen Interview mit der Agentur ANF im November 2017 beschrieb er die internationalen Zusammenhänge, ihre Ideologie und deren politische Umsetzung. Insbesondere ging er auf die sozialistische Perspektive ein, die für seinen Kampf von entscheidender Bedeutung war: „Wenn der Kapitalismus heute mit imperialistischen Politiken bestehen kann, dann liegt das daran, dass die Freiheitskräfte, die sozialistischen Kräfte, sich nicht gut genug artikulieren können und es nicht schaffen, sich zu organisieren und ihre Ideen in einen Kampf zu verwandeln. So wie das kapitalistische Weltwirtschaftssystem von einem Mittelpunkt aus gesteuert wird, müssen auch die freiheitlichen Kräfte auf demokratischer Basis zu einer internationalistischen Einheit zusammenfinden. Ohne dies ist es unwahrscheinlich, dass sie den Kapitalismus und Imperialismus beseitigen können.“ In seiner Äußerung betonte er entschlossen die Notwendigkeit eines sozialistischen Charakters mit Universalität. „Deshalb sind wir der Meinung, dass eine freiheitliche Internationale dringend erforderlich ist.“

Das Leben ermöglicht nicht jedem so zu leben wie Heval Rıza. Selbst wenn man es könnte, würde nicht jeder diesen Weg so gehen. In dieser Hinsicht ist er der Protagonist einer einzigartigen Geschichte. Es ist nicht überspitzt zu sagen; wer so gelebt hat, darf nicht alt, krank und voller Schmerzen in seinem Bett sterben. Ein von so viel Bewegung, Emotionalität und Leidenschaft geprägtes Leben hatte ihn bereits in jungen Jahren ins Visier seiner Feinde gerückt. Diese verfolgten ihn, überwachten ihn ständig und schmiedeten Pläne, um sein Leben zu beenden. Sein Abschied kam zu früh, doch er wird ein strahlendes Vorbild für all Jene sein, die den Wunsch nach einem würdevollen und widerstandsfähigen Weitergehen haben.

https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/die-berge-waren-sein-kompass-nachruf-auf-riza-altun-46254

 

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Demokratie-Plattform ruft zu Marsch von Amed nach Ankara auf

29. September 2025 - 13:00

Die Plattform Demokratischer Initiativen in Nordkurdistan hat zur Teilnahme der für den 1. Oktober angekündigten Demonstration unter dem Motto „Mit Hoffnung in die Freiheit“ aufgerufen. Ziel der von der Bewegung Freier Frauen (TJA) geplanten Aktion ist ein friedlicher Protestzug von Amed (tr. Diyarbakır) in die türkische Hauptstadt Ankara – mit dem erklärten Ziel, die physische Freiheit von Abdullah Öcalan sowie politische und gesellschaftliche Veränderungen einzufordern.

Die Erklärung der Plattform wurde am Montag in den Räumen des Provinzverbands der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) in Amed abgegeben. Anwesend waren Vertreter:innen mehrerer zivilgesellschaftlicher und politischer Organisationen, darunter auch die TJA sowie der Ortsverband der Partei der Demokratischen Regionen (DBP).

250 Frauen sollen den Protestmarsch führen

Der DBP-Politiker Ahmet Doğan kündigte an, dass rund 250 Frauen an der Spitze des Marschs stehen werden. „Solange Abdullah Öcalan nicht frei ist, werden wir unsere Aktionen weiter intensivieren“, sagte er. „Seine Freiheit bedeutet auch die Befreiung der Frauen und anderer unterdrückter Bevölkerungsgruppen.“

Demonstration führt durch sieben Städte

Seine Parteikollegin Ruçem Vefa Elyakut ergänzte, dass der Marsch über sieben Etappen in sieben Städten führen soll – darunter Riha (Şanlıurfa), Dîlok (Gaziantep), Adana, Mersin und schließlich Ankara, wo der Protest mit einer Pressekonferenz während einer Fraktionssitzung im Parlament abgeschlossen werden soll.

Die Demonstration solle nicht nur die Freilassung Öcalans fordern, sondern auch ein Signal für eine demokratische, friedliche Neuordnung in der Türkei senden. „Diese Initiative ist ein Ausdruck des Widerstands gegen das patriarchale System und das politische Isolationregime auf der Gefängnisinsel Imrali“, sagte Elyakut. Die Aktion verstehe sich als Teil eines breiteren gesellschaftlichen Kampfes für Gleichheit und Freiheit.

„Jede Frau ist ein Schritt – jeder Schritt ein Zeichen der Hoffnung“

In der Erklärung wurde insbesondere die Rolle der Frauen betont. Die Organisator:innen riefen Frauen und alle Bevölkerungsgruppen dazu auf, sich dem „Marsch der Hoffnung“ anzuschließen. „Jede Frau ist ein Schritt, jeder Schritt ein Widerstand, und jeder Widerstand ein Stück Hoffnung“, hieß es abschließend.

Der Startpunkt des Marsches am 1. Oktober ist in Amed am Çeşme-Platz hinter dem Einkaufszentrum Ceylan Karavil geplant.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/dem-mobilisiert-fur-frauenmarsch-zentrale-forderung-freiheit-fur-Ocalan-48130 https://deutsch.anf-news.com/frauen/tja-wir-gehen-mit-hoffnung-in-die-freiheit-48109 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-Cicek-ohne-imrali-ist-keine-losung-denkbar-48116

 

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Traverso: Die kurdische Frage steht an einem historischen Wendepunkt

29. September 2025 - 13:00

Der italienische Historiker und Intellektuelle Enzo Traverso hat sich in einer Botschaft an die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) positiv zur politischen Neuausrichtung der kurdischen Bewegung geäußert. Die kurdische Frage befinde sich an einem historischen Wendepunkt, so Traverso.

In seinem Schreiben erklärte der Professor der US-amerikanischen Cornell University: „Die Entscheidung der PKK, den bewaffneten Kampf zu beenden und sich in eine Organisation zu transformieren, die demokratische Prinzipien vertritt, friedliche Wege wählt und sich für einen sozialistischen Wandel einsetzt, ist zweifellos ein schwieriger Schritt. Doch er ist von großer historischer Bedeutung.“

Traverso rief die internationale Linke dazu auf, diesen strategischen Wandel positiv zu begleiten und den Mut der daran beteiligten Akteure zu würdigen. Zwar sei der begonnene politische Prozess mit Unsicherheiten, Rückschlägen und möglichen Hindernissen verbunden – doch Fortschritt erfordere stets „Mut und Entschlossenheit“.

Solidarität mit Öcalans Aufruf

Traversos Erklärung bezieht sich auf den „Aufruf zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft“, den der kurdische Repräsentant und PKK-Begründer Abdullah Öcalan Ende Februar veröffentlicht hatte. Die Initiative des 76-Jährigen, der seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung 1999 als politische Geisel des türkischen Staates auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten wird, soll den Weg zu einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage und einem würdevollen Frieden ebnen.

Zur Person: Enzo Traverso

Enzo Traverso ist ein international renommierter Historiker mit Schwerpunkt auf der politischen Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Geboren 1957 in Italien, studierte er zunächst in Genua und promovierte später an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften EHESS. Nach mehreren akademischen Stationen in Frankreich lehrt er seit 2013 an der Cornell University in den USA. Traverso hat sich insbesondere mit dem Erbe des Marxismus, der Geschichte politischer Gewalt, dem Faschismus und den intellektuellen Reaktionen auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts befasst. Zahlreiche seiner Werke sind auch auf Türkisch erschienen und finden in linken sowie akademischen Kreisen breite Resonanz.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/rashid-khalidi-Ocalans-appell-ist-eine-historische-chance-fur-frieden-48037 https://deutsch.anf-news.com/frauen/friedensnobelpreistragerin-jody-williams-fordert-schritte-fur-dialogprozess-in-der-turkei-47944 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/Osterreichischer-philosoph-robert-pfaller-unterstutzt-Ocalans-friedensaufruf-48015

 

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Militärbewegungen am Bagok-Massiv in Nisêbîn

29. September 2025 - 13:00

In der Umgebung des Bagok-Massivs nahe der Stadt Nisêbîn (tr. Nusaybin) kommt es seit Montagmorgen zu verstärkten Aktivitäten. Nach Beobachtungen von vor Ort hat die türkische Armee zahlreiche Soldaten und Fahrzeuge in das Gebiet in der kurdischen Provinz Mêrdîn (Mardin) verlegt.

An mehreren Punkten wurden gepanzerte Fahrzeuge stationiert und Straßenkontrollen eingerichtet. Die Truppenbewegungen dauern auch zur Stunde weiter an. Über den konkreten Hintergrund der Operation machte das türkische Militär zunächst keine Angaben. 

Foto: Türkischer Militärhubschrauber am Himmel über Mêrdîn, Archivaufnahme

https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/gefallenenstatte-im-bagok-gebirge-von-armee-zerstort-46583 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/militaroperation-am-bagok-massiv-ausgeweitet-44189 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/luftunterstutzte-militaroperation-am-bagok-massiv-44070

 

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Demokratischer Syrienrat trifft britischen Premierminister

29. September 2025 - 13:00

Eine Delegation des Demokratischen Syrienrats (MSD) hat bei politischen Gesprächen im Vereinigten Königreich zu verstärkter Unterstützung für einen demokratischen Umbau Syriens aufgerufen. In Liverpool traf die Delegation unter anderem den britischen Premierminister Keir Starmer sowie Verteidigungsminister John Healey und übermittelte eine Botschaft von Mazlum Abdi, dem Oberkommandierenden der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD).

Mazlum Abdi rief die britische Regierung darin auf, beim Wiederaufbau Syriens und der Stabilisierung des Landes eine aktivere Rolle einzunehmen. Die MSD-Delegation wurde auf der jährlichen Parteikonferenz der britischen Labour-Partei durch den Ko-Vorsitzenden für Öffentlichkeitsarbeit, Hassan Mohammed Ali, vertreten.

Politische Gespräche mit Regierung und Parlament

Neben den Treffen mit Regierungsvertretern führte die Delegation auch Gespräche mit mehreren Abgeordneten der Labour-Partei, darunter Sam Carling und Deirdre Costigan. Im Mittelpunkt stand dabei das sogenannte 10.-März-Abkommen – eine Vereinbarung zwischen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) und der syrischen Übergangsregierung in Damaskus. Dieses umfasst unter anderem die politische Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen, die Anerkennung der Kurd:innen als indigene Bevölkerung, die Rückkehr von Vertriebenen sowie die Integration der Institutionen in Nordostsyrien in die staatlichen Strukturen.

Ali betonte in diesem Zusammenhang, dass Großbritannien als diplomatischer Garant entscheidend dazu beitragen könne, diesen Prozess international abzusichern. „Die Wahl, vor der Syrien steht, ist klar: Entweder ein erneuter Abstieg in Chaos – oder der Aufbau eines demokratischen, pluralistischen und dezentralen Staates“, sagte Ali. „Wir haben uns für den zweiten Weg entschieden. Und wir glauben, dass das Vereinigte Königreich ein zentraler Partner in diesem Prozess sein kann.“

Treffen mit kurdischer Freundschaftsgruppe

Die Delegation nahm auch an einer von der britischen Parlamentsgruppe für kurdische Belange (APPG on Kurds) organisierten Sitzung teil. Geleitet wurde das Treffen von Peter Lamb, Co-Vorsitzender der APPG. Weitere Teilnehmer waren der Labour-Abgeordnete Bambos Charalambous, Simon Dubbins von der Gewerkschaft UNITE sowie der kurdischstämmige Londoner Kommunalpolitiker Mo Bakhtiar.

Charalambous sprach sich für den Aufbau eines Syrien ohne Terror und autoritäre Strukturen aus. Die QSD seien ein stabilisierender Faktor, der dringend weiter unterstützt werden müsse. Dubbins würdigte insbesondere den inklusiven und geschlechtergerechten Ansatz der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. „Die dortigen Strukturen sind ein Beispiel für partizipative Demokratie – und sie haben im Kampf gegen den IS große Opfer gebracht“, sagte er.

Rückblick auf zehn Jahre Krieg und Perspektiven für Wandel

In seinem Beitrag erinnerte Ali an die enormen Verluste der letzten zehn Jahre: Millionen Menschen wurden vertrieben, Hunderttausende starben, große Teile der Infrastruktur wurden zerstört. „Trotz allem ist der Wille der syrischen Nation stärker als das erlittene Leid“, betonte er.

Man lehne Zentralismus als Form der Staatsorganisation entschieden ab, sagte Ali. Er verwies auf den im Juni durch eine Splittergruppe der de facto in Damaskus herrschenden „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) verübten Selbstmordanschlag auf die griechisch-orthodoxe Mar-Elias-Kirche in der syrischen Hauptstadt und nannte ihn als Beispiel für die anhaltende Instabilität im Land.

Ali betonte, dass eine zentralistische Herrschaft die Grundlage für Repression und Eskalation bilde. Der 10.-März-Pakt biete hingegen die Möglichkeit, das Machtmonopol zu brechen und eine gerechtere, föderale Ordnung zu etablieren – sofern es umgesetzt werde.

Großbritannien als potenzieller Vermittler

Die Gespräche endeten mit einem Appell an Großbritannien, künftig eine aktivere Rolle beim Dialog zwischen der Autonomieverwaltung und der Zentralregierung in Damaskus zu übernehmen – sei es als politischer Vermittler oder als diplomatischer Garant für neue politische Rahmenbedingungen.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/msd-wirbt-in-liverpool-fur-politische-losung-in-syrien-48157 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/dialog-ja-unterordnung-nein-foza-yusif-uber-verhandlungen-mit-damaskus-47674 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/vertritt-al-scharaa-das-syrische-volk-48000 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/Ubergangsregierung-sperrt-wichtige-verbindung-aleppo-raqqa-48133

 

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Baluken fordert direkte Verhandlungen mit Öcalan

29. September 2025 - 13:00

Der kurdische Politiker Idris Baluken hat bei einer öffentlichen Veranstaltung in der Schweizer Stadt St. Gallen betont, dass die kurdische Bevölkerung ihren politischen Status durch Widerstand, Organisation und demokratische Beteiligung überwinden werde. Zugleich forderte er ein Ende der Isolationshaft von Abdullah Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali und die Wiederaufnahme transparenter Verhandlungen zur Lösung der kurdischen Frage.

Die Veranstaltung fand am Sonntag im Kantonsratssaal von St. Gallen statt und wurde vom Demokratischen Kurdischen Rat in der Schweiz (CDK-S) sowie den kurdischen Gemeinschaftszentren St. Gallen und Bregenz organisiert. Baluken war in den 2010er Jahren Mitglied der Imrali-Delegation und nahm von 2013 bis 2015 an Gesprächen mit Öcalan im Rahmen des damaligen Dialogprozesses teil.

 


Isolation ist ein Hindernis für Demokratie in der Region

In seiner Rede bezeichnete Baluken die seit nunmehr über 26 Jahren andauernde Isolation Öcalans als politische Blockade für den Nahen und Mittleren Osten. „Diese Isolation richtet sich nicht nur gegen eine Person, sondern gegen den politischen Willen eines Volkes“, sagte er. Die Perspektiven des kurdischen Repräsentanten – der demokratische Konföderalismus, der eine Gesellschaftsordnung jenseits des kapitalistischen Nationalstaatensystems anstrebt; Basisdemokratie, Geschlechterbefreiung und eine ökologisch-gemeinwohlorientierte Wirtschaft statt hierarchischer, patriarchalischer und profitorientierter Strukturen – seien nach wie vor der aussichtsreichste Lösungsansatz für die vielfältigen Krisen in der Region.

Statuslosigkeit als zentrales Konfliktfeld

Mit Blick auf die aktuellen Konflikte in Nah- und Mittelost verwies Baluken auf das Sykes-Picot-Abkommen, das vor über hundert Jahren willkürlich Grenzen zog und die Kurd:innen in vier Staaten aufteilte. Diese politische Statuslosigkeit bleibe ein Kernproblem. „Doch die kurdische Gesellschaft ist entschlossen, diesen Zustand durch Widerstand und Selbstorganisation zu überwinden“, sagte er.

Die anhaltenden Krisen im Nahen Osten seien eng mit der Verweigerung politischer Rechte für die Kurd:innen verknüpft. Eine demokratische Lösung sei ohne ihre Einbindung nicht denkbar.

Demokratische Nation als Perspektive

Als Antwort auf politische Repressionen sprach sich Baluken für die Umsetzung des Konzepts der „demokratischen Nation“ aus – einer Idee, die ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt in ein gemeinsames, gleichberechtigtes Gesellschaftsmodell integrieren soll. Dieses Modell, so Baluken, könne nicht nur für Kurd:innen, sondern für alle Völker der Region eine neue Perspektive bieten. Öcalans Ideen seien ein „Ausweg aus der Sackgasse nationalistischer Politik“.

Forderung nach transparentem Dialog

Auch andere Redner:innen bei der Veranstaltung forderten ein Ende der Isolation Öcalans und eine Rückkehr zu offenen Verhandlungen wie im Dialogprozess zwischen Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat von 2013 bis 2015. „Die Gesellschaft akzeptiert diesen Zustand nicht mehr“, hieß es. Es brauche jetzt entschlossenen politischen Druck und gesellschaftliches Engagement, um einen neuen Dialogprozess anzustoßen.

Newroz Yıldız, Ko-Vorsitzende des CDK St. Gallen, und der Politiker Murat Munzur erinnerten an den von Öcalan initiierten „Aufruf zu Frieden und demokratischer Gesellschaft“ vom 27. Februar. Sie betonten, dass jede und jeder im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Perspektive beitragen könne.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-Cicek-ohne-imrali-ist-keine-losung-denkbar-48116 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/bakirhan-parlament-muss-friedensgesetze-auf-den-weg-bringen-48148 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/schweiz-bekraftigt-bereitschaft-zur-vermittlung-in-kurdischer-frage-48113 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurtulmus-gesprach-mit-Ocalan-bislang-kein-thema-der-kommission-48117

 

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Frauen aus DAANES auf Diplomatiereise in der Schweiz

29. September 2025 - 11:00

Eine Frauendelegation aus der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens führt in der Schweiz eine Reihe politischer Gespräche. Ziel der Reise ist es, das demokratische Selbstverwaltungsmodell vorzustellen, auf die Situation von Frauen und Minderheiten aufmerksam zu machen und internationale Solidarität zu stärken.

Die Delegation besteht aus der Ko-Vorsitzenden des nordostsyrischen Frauenrats, Amina Omar, der Sprecherin des Syrischen Frauenrats, Mona Al-Yousef, Shahrazad Al-Jassim vom arabischen Frauendachverband Zenobiya, der Kongra-Star-Koordinatorin Jiyan Hisên sowie Georgette Barsum von der Union der Suryoye-Frauen.

Gespräche im Schweizer Parlament

Zum Auftakt traf die Gruppe am Freitag in Bern mit Fabian Molina, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP) und Mitglied der außenpolitischen Kommission, zusammen. Thema waren die aktuellen Entwicklungen in Syrien sowie die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten. Molina betonte, das Rojava-Modell könne ein Beitrag zu einer stabileren und gerechteren Ordnung im Nahen Osten sein. Der internationale Schutz demokratischer Strukturen sei unerlässlich.

Im Anschluss kam die Delegation mit Carlo Sommaruga zusammen, SP-Nationalrat und Mitglied der kurdischen Freundschaftsgruppe. Die Vertreterinnen erinnerten an die Folgen des 14-jährigen Krieges in Syrien und warnten vor andauernder Instabilität. Sommaruga bekräftigte die Unterstützung der Schweiz und verwies auf einen Parlamentsbeschluss vom vergangenen Februar, in dem die Anerkennung und Unterstützung der Selbstverwaltung in Nordostsyrien empfohlen wurde.

Austausch mit Zivilgesellschaft und Aktivist:innen

Neben parlamentarischen Gesprächen standen auch Begegnungen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen auf dem Programm. In Bern traf sich die Delegation im „Haus der Bewegungen“ mit Frauenorganisationen, Klimaaktivist:innen und sozialen Bewegungen. Dort wurden Solidaritätsbotschaften ausgetauscht und Gemeinsamkeiten in den Kämpfen für soziale Gerechtigkeit betont.

Später nahm die Delegation an einer öffentlichen Veranstaltung im kurdischen Gemeinschaftszentrum von Bern teil. Dort berichteten die Vertreterinnen über die aktuelle Lage in Rojava und die Rolle der Frauen im Aufbau demokratischer Strukturen.

 


Treffen mit syrisch-aramäischen Frauen

Ein weiterer Höhepunkt der Reise war das Treffen mit syrisch-aramäischen Frauen in Unterterzen im Kanton St. Gallen. Im Frauenzentrum der Bethnahrin Frauenunion (BFU) sprachen die Vertreterinnen Nord- und Ostsyriens am Sonntag mit Aktivistinnen der aramäischen Diaspora über ihre jeweiligen Erfahrungen.

Die Gastgeberinnen zeigten sich beeindruckt vom Aufbau der Frauenstrukturen in Rojava und sprachen sich dafür aus, das Modell der Selbstverwaltung auf ganz Syrien auszuweiten. Sie betonten, dass auch die syrisch-aramäische Gemeinschaft ein Teil des Landes sei und sich weiterhin diplomatisch für eine inklusive Lösung einsetze.

„Rojava ist ein Fenster der Hoffnung“

Amina Omar erläuterte in mehreren Gesprächen die Ziele der Delegation: „Wir wollen vermitteln, dass nach Jahren des Krieges neue Chancen auf Demokratie, Gleichberechtigung und föderale Strukturen bestehen – auch wenn die Risiken weiterhin groß sind.“

Weitere Stationen geplant

Die Delegation wird ihre Reise in den kommenden Tagen in mehreren Schweizer Städten fortsetzen. Geplant sind Treffen in Lausanne, Zürich, Aarau und St. Gallen mit Vertreter:innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Communitys. In Lausanne wird die Gruppe zudem an einer Podiumsdiskussion teilnehmen.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/syrische-frauendelegation-in-deutschland-48095 https://deutsch.anf-news.com/frauen/heseke-frauenrat-des-kommunalverbands-tagt-mit-150-delegierten-48153 https://deutsch.anf-news.com/frauen/frauenbewegungen-in-syrien-einigen-sich-auf-gemeinsame-agenda-48042

 

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MSD wirbt in Liverpool für politische Lösung in Syrien

29. September 2025 - 11:00

Hassan Mohammed Ali, Ko-Vorsitzender der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Demokratischen Syrienrats (MSD), hat bei mehreren Veranstaltungen in Liverpool über die Lage in Nord- und Ostsyrien informiert. Im Zentrum stand der Aufruf, die Errungenschaften in Rojava künftig durch politische Arbeit statt bewaffneten Kampf zu sichern.

Ali nahm zunächst an einer Veranstaltung im Rahmen der Jahreskonferenz der britischen Labour-Partei teil. Die Sitzung stand unter dem Titel: „An der Seite der Kurden: Gerechtigkeit fördern, Autonomie stärken, ein neues Syrien aufbauen“. Diskutiert wurde, wie die britische Arbeiterbewegung mit den demokratischen Kräften in Nordostsyrien solidarisch sein kann.

Neben Hassan Mohammed Ali sprachen unter anderem die Abgeordneten Peter Lamb und Bambos Charalambous sowie der Gewerkschafter Simon Dubbins und Stadtrat Mo Bakhtiar. Im Mittelpunkt standen die Entwicklungen in der Region, die Rolle der Selbstverwaltungsstrukturen – und die Frage, wie internationale Solidarität konkret aussehen kann.

 


„Die politischen Wege sind jetzt entscheidend“

Im Anschluss traf sich Ali mit Mitgliedern der kurdischen Community im Rojava-Kulturzentrum in Liverpool. Die Veranstaltung begann mit einer Schweigeminute für die Gefallenen der Revolution von Rojava und der kurdischen Bewegung. Danach berichteten die MSD-Delegierten über aktuelle Entwicklungen vor Ort. „Wir haben hohe Preise bezahlt. Jetzt wollen wir keine weiteren Verluste mehr“, sagte der MSD-Vertreter. „Was wir erreicht haben, wollen wir durch politische Arbeit schützen und weiterentwickeln.“

Geopolitischer Wandel und Druck auf Ankara

In seiner Rede verwies Ali auf tiefgreifende Veränderungen im Nahen Osten. „Die Ordnung von Sykes-Picot ist am Ende. Neue Handelsrouten entstehen – und diese führen über Kurdistan.“ Die Türkei, so seine Einschätzung, stehe vor einer Entscheidung: Entweder sie erkenne die kurdische Realität an oder sie werde wirtschaftlich ins Abseits gedrängt.

„Sie haben mit militärischen Mitteln, mit Politik, mit Medien und sogar mit Chemiewaffen versucht, die Kurden zu brechen – und sind gescheitert. Jetzt bleibt nur noch der Weg der Verständigung“, sagte er. Stabilität sei für den Handel entscheidend – und ohne Einigung mit den Kurd:innen werde es diese nicht geben.

Großes Interesse an Diskussion

Im Anschluss an die Rede stellten Besucher:innen Fragen an die MSD-Delegierten. Diskutiert wurde unter anderem über die Lage in Rojava, den Stand des Autonomieprojekts, die Rolle Europas – und die Perspektiven für eine politische Lösung in Syrien. Die Veranstaltung stieß auf großes Interesse – laut Organisator:innen war die Beteiligung hoch.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/daanes-begrusst-us-taskforce-zur-ruckfuhrung-von-is-angehorigen-48156 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/kri-baut-mauer-an-grenze-zu-rojava-48151 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/Ubergangsregierung-sperrt-wichtige-verbindung-aleppo-raqqa-48133

 

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DAANES begrüßt US-Taskforce zur Rückführung von IS-Angehörigen

29. September 2025 - 9:00

Die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat die Ankündigung des US-Zentralkommandos (CENTCOM) zur Einrichtung einer gemeinsamen Taskforce zur Rückführung von Angehörigen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) begrüßt. Die Initiative zielt auf die Rückführung von Frauen und Kindern aus den überfüllten Lagern al-Hol und Roj im Nordosten Syriens in deren Herkunftsländer.

Wie CENTCOM-Kommandeur Brad Cooper am Freitag bei einer von der irakischen Regierung im Rahmen der UN-Vollversammlung in New York einberufenen Konferenz zur Lage in den beiden Camps mitteilte, soll die neue Taskforce dabei helfen, Rückführungen zu koordinieren und humanitäre sowie sicherheitspolitische Herausforderungen in den Griff zu bekommen.

Fanar al-Kait, Ko-Vorsitzender der DAANES-Abteilung für Außenbeziehungen, erklärte laut einer Mitteilung: „Die Selbstverwaltung begrüßt die Einrichtung einer gemeinsamen Taskforce zur Rückführung von IS-Familien aus den Lagern al-Hol und Roj in Nordostsyrien.“

Die DAANES habe internationale Partner seit Langem dazu aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen und eigene Staatsangehörige zurückzunehmen. Ein weiteres Zögern könne zu erneuter Radikalisierung führen – mit Folgen für Syrien und darüber hinaus, warnte al-Kait.

Appell für faire Verfahren gegen IS-Söldner

Al-Kait forderte zudem faire und transparente Gerichtsverfahren für inhaftierte IS-Söldner. Die DAANES sei bereit, entsprechende Verfahren vor Ort zu eröffnen, um den Opfern der IS-Verbrechen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

In den Lagern al-Hol und Roj leben zehntausende Frauen und Kinder, die mit IS-Terroristen in Verbindung stehen. Trotz verstärkter Sicherheitsmaßnahmen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Behörde für innere Sicherheit in der nordostsyrischen Autonomieregion (Asayîş) kommt es immer wieder zu Vorfällen, darunter Fluchtversuche und Angriffe auf humanitäre Einrichtungen.

Die DAANES betont, dass internationale Zusammenarbeit entscheidend sei, um den humanitären und sicherheitspolitischen Herausforderungen zu begegnen. Die regionale Verwaltung sieht sich als verlässlichen Partner für Stabilität und Rechtsstaatlichkeit in einer weiterhin fragilen Region.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/ypj-sicherheitsoperationen-im-hol-camp-werden-fortgesetzt-47855 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/dutzende-familien-verlassen-camp-hol-in-richtung-aleppo-46708 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/qsd-nehmen-is-funktionar-in-camp-hol-fest-46535 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/fall-des-kalifats-qsd-warnen-vor-wiedererstarken-des-is-45691 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/sechs-mutmassliche-is-kollaborateure-im-camp-roj-festgenommen-45838

 

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Tausende protestieren in Muğla gegen türkische Umweltpolitik

29. September 2025 - 2:00

Unter dem Motto „Wir geben unseren Boden nicht her“ haben Tausende Menschen in der westtürkischen Provinz Muğla gegen Umweltzerstörung und ausbeuterische Energie- und Bergbaupolitik protestiert. Zu der Demonstration am Sonntag auf dem Atatürk-Boulevard in der Provinzhauptstadt rief ein Bündnis aus zahlreichen politischen Parteien, Gewerkschaften und Umweltinitiativen auf.

Auf Transparenten und Schildern war unter anderem zu lesen: „Gerechtigkeit für Akbelen“, „Finger weg von unseren Wäldern“ und „Keine Chance für das Besatzungsgesetz“. Die Teilnehmenden skandierten Parolen wie „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“ und „Finger weg von Luft, Wasser und Erde“. Immer wieder war auch der Ruf „Sie sind eine Handvoll, wir sind Millionen“ zu hören.

Zerstörung der Natur ist Angriff auf die Zukunft

Die Kundgebung begann mit einer Schweigeminute für Menschen, die im Kampf um den Erhalt der Umwelt ihr Leben verloren. Im Anschluss sprach unter anderem Ayfer Koçak, Ko-Vorsitzende des Gewerkschaftsbunds KESK. „Unsere Beteiligung an dieser Bewegung ist keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit“, sagte sie. „Wer Wälder rodet, Flüsse verschmutzt und Böden zerstört, greift direkt die Lebensgrundlagen der Menschen an – besonders die der arbeitenden und ärmeren Bevölkerung.“

Massive Kritik an Energie- und Bergbaupolitik

Scharfe Kritik an der Regierung übte auch Sera Kadıgil, Abgeordnete der Arbeiterpartei TIP. „Wir sind hier, weil wir all denen entgegentreten, die unsere Luft, unser Wasser, unsere Olivenhaine und unsere Körper ausbeuten wollen“, sagte sie. In den letzten 15 Jahren seien mehr als 386.000 Bergbaulizenzen vergeben worden – „nichts anderes als ein Ausverkauf an in- und ausländische Konzerne“.

Opposition fordert Stopp des neuen Umweltgesetzes

Tülay Hatimoğulları, Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, warf der Regierung vor, gezielt Natur und Lebensräume zu opfern, um kurzfristige wirtschaftliche Interessen zu bedienen. „Was derzeit in Akbelen oder Milas passiert, geschieht auch an vielen anderen Orten in der Türkei“, sagte sie. Das kürzlich im Parlament verabschiedete Sammelgesetz, das den Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Wäldern, Olivenhainen und landwirtschaftlichen Flächen erleichtert, etwa für Bergbauprojekte, nannte sie eines der repressivsten Gesetze der letzten Jahre. Gemeinsam mit anderen Oppositionsparteien habe man Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Gesetz müsse gestoppt werden.

„Frieden beginnt mit dem Schutz der Natur“

Hatimoğulları betonte außerdem die Verbindung zwischen Umwelt- und Friedenspolitik: „Frieden bedeutet nicht nur das Schweigen der Waffen. Frieden heißt auch, mit Bäumen, Wasser und Erde im Einklang zu leben“, sagte sie. Eine dauerhafte Friedensordnung sei nur möglich, wenn die natürlichen Lebensgrundlagen geschützt würden.

Auch Abholzungen in Kurdistan kritisiert

Mit Blick auf massive Abholzungen in der Besta-Region in der kurdischen Provinz Şirnex (tr. Şırnak) sagte Hatimoğulları: „Wenn wir eine gemeinsame Brücke des Widerstands von Muğla bis Şırnak bauen, können wir diese Politik zum Einlenken zwingen.“ Sie sprach von einer notwendigen, aber auch langwierigen Auseinandersetzung.

CHP-Chef Özel: „Das Parlament ist heute hier“

Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, warf der Regierung vor, wiederholt versucht zu haben, gesetzliche Schutzbestimmungen für Olivenhaine aufzuweichen. Allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten habe es elf Anläufe gegeben. „Wenn das Parlament in Ankara nicht zuhört, dann ist heute dieser Platz das Parlament“, sagte Özel. Die CHP beteilige sich an der gemeinsamen Verfassungsbeschwerde verschiedener Parteien gegen die neue Regelung.

Fachverbände warnen vor Folgen für Gesundheit und Umwelt

Auch Vertreter:innen des Türkischen Ärztebunds (TTB) und der Ingenieur- und Architektenkammer (TMMOB) warnten vor den Folgen einer großflächigen Umweltzerstörung für Gesundheit, Landwirtschaft und Lebensqualität.

https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/baumpflanzaktion-als-antwort-auf-anhaltende-umweltzerstorung-in-Sirnex-48055 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/umweltverein-warnt-vor-zerstorung-des-sarim-tals-durch-kraftwerke-48149 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/energieprojekte-setzen-natur-in-wan-unter-druck-48115 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/turkisches-parlament-erlaubt-eingriffe-in-olivenhaine-fur-bergbauprojekte-47173 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/die-natur-vergisst-nicht-kjk-ruft-zu-okologischer-mobilisierung-auf-47554

 

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Berichte über großflächige Abholzungen in Dorşîn

28. September 2025 - 20:00

In der Dorşîn-Region im kurdischen Landkreis Pasûr (tr. Kulp) kommt es nach übereinstimmenden lokalen Berichten seit rund zwei Wochen zu umfassenden Abholzungen. In der Nähe der Siedlung Mezra Xuş, die zur Ortschaft Eskar gehört, sollen sowohl Anwohnende als auch sogenannte Dorfschützer aus dem benachbarten Kanika beteiligt sein. Die gefällten Bäume werden demnach täglich auf fünf bis sechs Lastwagen verladen und in Richtung Provinzhauptstadt Amed (Diyarbakır) transportiert.

Keine Differenzierung nach Baumart oder Alter

Wie die Nachrichtenagentur MA berichtet, erfolgt die Abholzung ohne Rücksicht auf Alter oder Zustand der Bäume. Umweltorganisationen äußerten Besorgnis über das Vorgehen, das nicht nur potenziell illegal sei, sondern auch das Ökosystem der Region gefährden könne.

Ortsvorsteher: „Kein großflächiger Kahlschlag“

Der Ortsvorsteher von Eskar, Ahmet Eren, wies auf Nachfrage die Darstellung eines großflächigen Kahlschlags zurück. Es sei zwar vereinzelt zur Holzernte gekommen, doch diese habe man inzwischen gestoppt: „Wir haben das unter Kontrolle. Ein großflächiges Fällen gibt es nicht – zumindest nicht in unserem Gebiet“, gab Eren trotz gegenteiliger Berichte an.

Bezüglich der Aktivitäten in benachbarten Ortschaften verwies Eren auf fehlende Zuständigkeit. Er stellte zudem in Frage, ob kursierende Fotos und Videos, die den Abtransport von Holz dokumentieren, tatsächlich aus seiner Gemeinde stammen und aktuellen Datums seien. Laut MA-Recherchen werden die abgeholzten Bäume in Lagereinrichtungen bei Amed gebracht. Ob es sich dabei um eine legale Holzernte handelt, blieb zunächst unklar.

https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/baumpflanzaktion-als-antwort-auf-anhaltende-umweltzerstorung-in-Sirnex-48055 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/durre-im-xurs-tal-lebensgrundlage-von-uber-10-000-menschen-bedroht-47939 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/Okologieverein-verurteilt-abholzung-durch-zwangsverwaltung-in-wan-48136

 

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Hesekê: Frauenrat des Kommunalverbands tagt mit 150 Delegierten

28. September 2025 - 19:00

Mit der Teilnahme von rund 150 Delegierten findet in der Stadt Hesekê die zweite Konferenz des Frauenrats des Verbands der Kommunen Nord- und Ostsyrien statt. Die Tagung wird von Vertreterinnen der Selbstverwaltung, der Frauenbewegung Kongra Star sowie politischen Parteien begleitet. Eröffnet wurde sie mit einer Gedenkminute.

Frauen stärken ihre Rolle in der kommunalen Selbstverwaltung

Sîham Qeryo, Ko-Vorsitzende des Volksrates der nordostsyrischen Autonomieverwaltung, bezeichnete die Konferenz als wichtigen Meilenstein im Kampf von Frauen um Mitbestimmung, Gerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe im öffentlichen Leben.

„Die Kommunen sind die der Bevölkerung am nächsten stehenden Institutionen“, sagte Qeryo. Frauen spielten dort eine tragende Rolle beim Wiederaufbau und bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. „Die Stärkung der Frauen in den Kommunen ist eine nationale Notwendigkeit – für ein gerechtes, pluralistisches und solidarisches Gemeinwesen“, so Qeryo weiter.

Kongra Star: Deutliche Botschaft an regionale und internationale Akteure

Auch Bêrîvan Xalid, Koordinationsmitglied der Frauenbewegung Kongra Star, betonte die politische Bedeutung des Treffens. „Unsere heutige Zusammenkunft sendet eine klare Botschaft: Frauen in der Selbstverwaltung verteidigen ihre Rechte – ihre Stimme ist nicht zu brechen“, sagte sie.

Sie verwies auf die politische Selbstbehauptung von Frauen seit der Revolution von Rojava und betonte, dass sie trotz aller Versuche, sie zu marginalisieren, heute demokratische Strukturen mitgestalteten. „Trotz begrenzter Mittel haben die Frauen in Nordostsyrien Verantwortung übernommen, Regionen mitaufgebaut und politische Verantwortung getragen“, so Xalid.

Gedenken, Politik und Verfassungsfragen

Hêvî Seyid, Ko-Vorsitzende des Frauenrates der Gefallenenfamilien im Kanton Cizîr, rief dazu auf, das politische Vermächtnis der Gefallenen zu bewahren. Sie forderte zudem eine Stärkung des Kampfes für die Freilassung von Abdullah Öcalan.

Foza Yûsif warnt vor neuer Eskalation

Foza Yûsif, Mitglied des Exekutivrats der Partei PYD, kritisierte die syrische Übergangsregierung für polarisierende Rhetorik und warf ihr vor, außenpolitischen Interessen Vorschub zu leisten. „Die einzig nachhaltige Lösung für Syrien liegt im Dialog“, sagte sie. Der Versuch, ein zentrales Regierungssystem gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen, könne das Land erneut in Gewalt stürzen.

Verweis auf 10.-März-Abkommen

Yûsif äußerte sich auch zum sogenannten 10.-März-Abkommen, das politische Gespräche zwischen der Selbstverwaltung und der Übergangsregierung ermöglichen soll. Seit zwei Monaten bereite sich die Selbstverwaltung mit Ausschüssen auf diese Gespräche vor. Eine Reaktion der Gegenseite stehe bisher aus. „Wir sind gesprächsbereit – unabhängig davon, an welchem Ort. Wichtig ist, dass wir am selben Tisch zusammenkommen“, sagte sie.

Frauen als politische Akteurinnen

Abschließend betonte Yûsif die zentrale Rolle von Frauen in der politischen Neuordnung Syriens. Sie rief zu gemeinsamer Aktion auf: „Alle Frauen, insbesondere in Nord- und Ostsyrien, sollten ihre Kräfte bündeln, um extremistischen Strömungen entgegenzutreten und eine demokratische Republik aufzubauen.“

Die Konferenz wird mit einer politischen Analyse, der Vorstellung von Perspektiven des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, einer Videopräsentation sowie der Verlesung der überarbeiteten Satzung des Frauenrats fortgesetzt.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/frauenbewegungen-in-syrien-einigen-sich-auf-gemeinsame-agenda-48042 https://deutsch.anf-news.com/frauen/frauenkonferenz-in-heseke-fordert-demokratische-verfassung-48036

 

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Selbstverwaltung startet Baumwollaufkauf in mehreren Regionen

28. September 2025 - 19:00

Die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat mit dem Ankauf der diesjährigen Baumwollernte begonnen. Die Arbeiten werden in den drei regionalen Hauptzentren Cizîr, Raqqa und Deir ez-Zor koordiniert und laufen nach einem zuvor festgelegten Bewertungssystem ab.

Wie das Baumwollkomitee der Autonomieverwaltung mitteilte, erfolgt die Qualitätseinstufung auf Grundlage von Stichproben. Dabei wird unter anderem der Feuchtigkeitsgehalt der Baumwolle gemessen. Anschließend erfolgt eine Einteilung in Qualitätsklassen, nach denen sich der Aufkaufpreis richtet.

Logistische Vorbereitung abgeschlossen

Für die Lagerung der Baumwolle seien umfassende logistische Vorkehrungen getroffen worden, hieß es. So wurden spezielle Lagerhallen eingerichtet und Feuerlöschsysteme installiert. In Raqqa wurde zudem eine eigene Feuerwache am Aufkaufzentrum in Betrieb genommen, wie der dortige Experte Hussein Khalifan erklärte. Der gesamte Prozess werde gemäß den Vorgaben des Wirtschafts- und Agrarrates der Selbstverwaltung abgewickelt.

Qualifizierte Fachkräfte im Einsatz

Am Baumwollzentrum Raqqa sind nach offiziellen Angaben zwischen 100 und 150 Arbeitskräfte beschäftigt. Darüber hinaus kommen Agraringenieur:innen und Expert:innen zum Einsatz, die zuvor an Schulungen zur Qualitätsbewertung teilgenommen haben.

Baumwolle bleibt zentrale Einkommensquelle

Baumwolle gilt in Nordostsyrien weiterhin als einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Ertragszweige. Der Wirtschafts- und Agrarrat der Selbstverwaltung hatte den Ankaufspreis pro Tonne Baumwolle im Vorfeld mit 600 US-Dollar festgelegt.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/rojavas-wirtschaftliche-vision-iii-selbstversorgung-47135 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/null-abfall-kampagne-in-heseke-gestartet-48082 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/qamislo-startet-grossprojekt-zur-trinkwasserversorgung-46873

 

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KRI baut Mauer an Grenze zu Rojava

28. September 2025 - 19:00

Die Führung der Kurdistan-Region des Irak (KRI) hat mit dem Bau einer Betonmauer entlang der Grenze zur Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) begonnen. Wie die Nachrichtenagentur Hawarnews (ANHA) berichtete, werden massive Betonblöcke mit einer Höhe von rund drei Metern und einem Durchmesser von 75 Zentimetern aufgestellt. Der Bau erfolgt in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs Sêmalka-Pêşxabûr, einem der wichtigsten Verbindungspunkte zwischen der DAANES und der KRI.

Die Maßnahme gilt als Fortsetzung einer früheren Initiative der irakischen Zentralregierung in Bagdad, die bereits im Grenzgebiet zwischen der ezidischen Şengal-Region und der nordostsyrischen Autonomieregion mit dem Bau von Sperranlagen begonnen hatte. Diese reichten bislang bis in den Raum Til Koçer-Rabia.

Nun will die KRI, die von der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) dominiert wird, diese Linie offenbar bis zum Sêmalka-Grenzübergang weiterführen. Beobachter:innen werten dies als Teil einer größeren sicherheitspolitischen Strategie, die auch auf aktuelle Entwicklungen in Syrien reagiert.

Sorge über politische Signalwirkung

Der Bau der Mauer erfolgt in einem angespannten politischen Umfeld. In den vergangenen Wochen hatten sowohl die Türkei als auch die selbsternannte syrische Übergangsregierung unter dem HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa wiederholt Drohungen gegen die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ausgesprochen.

Zudem hatte die PDK bereits Ende November 2024 den Grenzübergang Sêmelka geschlossen – unmittelbar nach der Einnahme von Teilen der syrischen Hauptstadt Damaskus durch die Dschihadistenallianz HTS und deren Verbündete.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/Ubergangsregierung-sperrt-wichtige-verbindung-aleppo-raqqa-48133

 

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Gedenken an Nagihan Akarsel: Frauen-Workshop in Paris

28. September 2025 - 17:00

In Gedenken an die 2022 in Südkurdistan getötete Jineolojî-Forscherin und Aktivistin Nagihan Akarsel haben die Jineolojî-Akademie und der Verband der kurdischen Frauen in Frankreich (TJK-F) in Paris einen international besetzten Workshop veranstaltet. Vertreterinnen von Frauenorganisationen aus verschiedenen Regionen der Welt kamen auf Einladung der Veranstalterinnen zusammen, um über strukturelle Gewalt an Frauen, feministische Widerstandsperspektiven und kollektive Lösungsansätze zu diskutieren. Die Moderation übernahm Lison Noël.

In dem gemeinsam erarbeiteten Aufruftext hieß es: „Überall auf der Welt werden Frauen, die sich für ein freies, würdevolles und gerechtes Leben einsetzen, zur Zielscheibe – sie verschwinden, werden ermordet, zum Schweigen gebracht. Nagihan Akarsels Tod jährt sich zum dritten Mal. Wir gedenken ihr und all den getöteten Frauen mit Diskussionen, Panels und kulturellen Beiträgen. Feminizid ist ein gesellschaftliches und politisches Problem.“

Meral Çiçek: Feminizid ist der längste Krieg der Geschichte

In der Eröffnungsrede erinnerte Meral Çiçek von der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E) an Nagihan Akarsel, die am 4. Oktober 2022 in Silêmanî von einem Attentäter des türkischen Geheimdienstes MIT erschossen wurde: „Nagihan kämpfte für ein würdevolles, gleichberechtigtes und freies Leben. Sie wurde gezielt getötet – wie viele andere Frauen vor ihr.“

Çiçek bezeichnete den weltweiten Feminizid als „längsten Krieg der Geschichte“: „Täglich werden Frauen getötet, oft durch Partner oder Familienmitglieder. Die Täter bleiben zu oft straffrei. Wer über Frauenmorde spricht, muss auch über Gerechtigkeit und Wahrheit sprechen. Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit.“ Sie erinnerte an weitere ermordete Aktivistinnen wie Berta Cáceres, Marielle Franco und Dulcie September und betonte, dass „dieser Krieg keine Grenzen kennt – weder geographisch noch zeitlich“.

Elif Kaya: Jede zehn Minuten wird weltweit eine Frau getötet

Für die Jineolojî-Akademie sprach Elif Kaya. Sie verwies auf den Feminizid-Bericht der Vereinten Nationen von 2023, demzufolge in jenem Jahr weltweit über 51.000 Frauen durch Partner oder Familienangehörige getötet wurden. „Alle zehn Minuten wird irgendwo auf der Welt eine Frau getötet – und doch fehlt es an politischer Debatte über die Ursachen“, so Kaya.

 


Kaya forderte mehr internationale Vernetzung, ideologische Auseinandersetzung und politische Gegenstrategien: „Nur durch kollektive Organisierung, durch Widerstand, Bildung und Solidarität lässt sich diese Gewalt stoppen.“

Dilar Dirik: Gewalt gegen Frauen als globales Herrschaftsinstrument

Die Aktivistin und Wissenschaftlerin Dilar Dirik sprach im Namen des Netzwerks Women Weaving the Future. Sie betonte, dass Gewalt gegen Frauen nicht als Einzelphänomen, sondern als strukturelles Herrschaftsinstrument zu verstehen sei: „Wir befinden uns weltweit in einem dritten großen Krieg – Frauen stehen dabei zunehmend autoritären, militarisierten Regimen gegenüber. Die Antwort darauf muss ein antimilitaristischer, antikolonialer Feminismus sein.“

Nesrin Akgül: Feminizid ist kein individuelles Verbrechen

Eine schriftliche Botschaft der Jineolojî-Akademie-Mitgründerin Nesrin Akgül wurde von Ezgi Çelik verlesen. Darin hieß es: „Wir leben weiterhin im Schock darüber, wie tief patriarchale Systeme Frauenmorde als Normalität ins gesellschaftliche Bewusstsein eingebrannt haben – oft getarnt als ‚Ehre‘, ‚Liebe‘ oder ‚Tradition‘.“

Akgül warnte davor, Feminizid nur als individuelles Verbrechen zu betrachten: „Der sogenannte ‚klassische Täter‘ ist Ausdruck eines kollektiven historischen Bewusstseins, das Frauenleben systematisch entwertet. Ohne diese Wahrheit anzuerkennen, kann keine echte Gerechtigkeit entstehen.“

Kulturelle Beiträge

Begleitet wurde das Programm von kulturellen Darbietungen, organisiert unter anderem durch die Gruppe Koma Lêkolînên Hunerî ya Jineolojî sowie die Jineolojî-Broderie in der Provence. Die Künstlerin Aslı Filiz präsentierte zusätzlich eine Reihe performativer Beiträge. Der Workshop endete mit den Parolen „Bijî Serok Apo“ und „Jin, Jiyan, Azadî“ („Frau, Leben, Freiheit“).

https://deutsch.anf-news.com/frauen/nagihan-akarsel-unter-jin-jiyan-azadi-rufen-beigesetzt-34424 https://deutsch.anf-news.com/frauen/kjk-ruft-zu-weltweitem-widerstand-gegen-patriarchat-und-repression-auf-47949 https://deutsch.anf-news.com/frauen/kjar-freiheit-beginnt-mit-der-frau-47979

 

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Umweltverein warnt vor Zerstörung des Sarim-Tals durch Kraftwerke

28. September 2025 - 15:00

In der Sarim-Hochebene im Grenzgebiet der Provinzen Amed (tr. Diyarbakır), Çewlîg (Bingöl) und Mûş (Muş) mehren sich die Proteste gegen geplante Energie- und Infrastrukturprojekte. Die Organisation zum Schutz des natürlichen Erbes der Sarim-Region warnte auf einer Kundgebung in der Ortschaft Pêçar bei Licê vor schwerwiegenden ökologischen und sozialen Folgen.

Staudämme, Industrieanlagen, Wasserentnahmen geplant

Nach Angaben des Vereins sind auf dem Sarim-Fluss drei Dämme, fünf Steinbrech- und Siebanlagen, ein Verladebecken sowie ein Elektrizitätswerk geplant. Diese Eingriffe bedrohten das empfindliche Gleichgewicht des lokalen Ökosystems, sagte Vereinsvertreter Emin Turhallı.

Die Region besteht aus fünf zentralen Tälern, von denen eines – das Hem-Tal – bereits stark durch Kupferabbau beeinträchtigt ist. „Quellen, aus denen die Dorfbevölkerung ihr Trinkwasser und das Wasser für Gärten und Felder bezieht, sind bereits versiegt oder verschmutzt“, so Turhallı. Ähnliche Entwicklungen drohten nun auch in den vier weiteren Tälern.

Vergleich mit ökologischer Zerstörung am Pasûr-Fluss

Turhallı erinnerte an die ökologischen Folgen früherer Wasserkraftprojekte in der Region. Am Pasûr-Fluss habe der Bau von Wasserkraftwerken zum vollständigen Verlust der aquatischen Biodiversität geführt: „Alle Fische starben, der Wasserhaushalt brach zusammen, das Mikroklima geriet aus dem Gleichgewicht.“

Ein ähnliches Szenario sei für die Sarim-Region zu befürchten. Laut Turhallı würde der Bau von Staumauern und Kraftwerken die Luftströmungen verändern, die Schneefälle reduzieren, die Albedo der Berge senken und damit langfristig zu Trockenheit, Extremtemperaturen und Überflutungen führen. Die Auswirkungen würden sich bis in weite Teile der Provinzen Amed, Êlih (Batman) und Mêrdîn (Mardin) erstrecken.

Gefährdung seltener Arten und landwirtschaftlicher Produktion

Neben der Umweltzerstörung befürchtet der Verein das Aussterben seltener Tierarten. So sei der vom Aussterben bedrohte Batman-Schmerle nur noch im Sarim-Fluss nachweisbar. Auch andere Arten wie der Braunbär, die Wildziege und die Wasserratte seien durch Zäune, Wasserentzug und Lebensraumverlust bedroht.

Zudem sei die Region ein wichtiges landwirtschaftliches Anbaugebiet. Produkte wie Kirschen, Tomaten, grüne Bohnen, Honig, Butter und Wildkräuter würden nicht nur die lokale Bevölkerung versorgen, sondern auch Märkte in benachbarten Städten wie Amed und Çewlîg bedienen.

„Jede einzelne Quelle, jeder Bach speist ein System, das ganze Existenzen trägt – von Wildtieren bis zu Bauernfamilien“, sagte Turhallı.

Kritik am Staat

Scharfe Kritik übte Turhallı an der anhaltenden staatlichen Unterstützung für den Bau von Wasserkraftwerken unter dem Vorwand des „öffentlichen Interesses“. In vielen Industrieländern würden solche Anlagen inzwischen rückgebaut. „Kein Tropfen Wasser fließt hier umsonst“, sagte Turhallı. „Wahrer öffentlicher Nutzen besteht darin, die Böden bewirtschaftbar zu halten, die Wälder zu schützen, die Bienen zu erhalten, kurz: das Leben zu bewahren.“

Appell für den Schutz des Lebensraums

Zum Abschluss forderte Turhallı ein Moratorium für alle geplanten Eingriffe in der Region und rief zu einem Umdenken auf: „Trocknet unsere Quellen nicht aus, verschmutzt unser Wasser nicht. Lasst die Flüsse frei fließen, damit Rebhühner rufen, Gazellen galoppieren und der Wind über die Hochebenen zieht.“

https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/widerstand-gegen-geplantes-wasserkraftwerk-in-sarim-47537 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/energieprojekte-setzen-natur-in-wan-unter-druck-48115 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/trotz-protesten-bergbauunternehmen-in-Semrex-setzt-arbeiten-fort-48075

 

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