Keine Angst vor Enteignungen – sie kommen ja doch nicht

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Keine Angst vor Enteignungen – sie kommen ja doch nicht
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Keine Angst vor Enteignungen – sie kommen ja doch nicht

von Jens Berger / NachDenkSeiten

Wenn man sich dieser Tage die Statements von Politikern und die Leitartikel der großkopferten Edelfedern anschaut, könnte man glatt denken, der alte Lenin sei von den Toten aufgestanden und stünde wieder vor der Tür, um uns nun in Gestalt eines Berliner Volksbegehrens gegen Immobilienspekulanten unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wegzukollektivieren. Dabei besteht doch gar kein Grund zur Schnappatmung, zumal das Bürgertum durch clevere Gesetze ohnehin effektiv verhindert hat, dass dem Staat gegen den Willen der Parteien vom Volk eine Politik im Sinne der Allgemeinheit aufgezwungen wird. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall eines akuten Auftretens von „Linkspopulismus“ ist vorgesorgt. Uns „drohen“ also weder Lenin noch Allgemeinwohl. Die Politik hat die Lage voll im Griff und wir fahren weiter volle Fahrt aufs Riff.

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Enteignung und Vergesellschaftung. Wer denkt da nicht zuallererst an rote Volkskommissare, die dem lieben alten Bauern seine kleine Scholle Land wegenehmen? Junkerland in Bauernhand! Doch diese Vorstellung geht dann doch weit an der Realität vorbei. Das gute alte Grundgesetz sieht schließlich Enteignungen und Vergesellschaftungen zum Wohle der Allgemeinheit ausdrücklich vor und zumindest mir wäre neu, dass unsere Verfassung von den Kommunisten geschrieben wurde.

In der Geschichte der Bundesrepublik wurde dann auch im Sinne der Allgemeinheit enteignet, was das Zeug hält. Wann immer eine neue Autobahn, ein Braunkohlerevier oder eine Stromtrasse entstehen sollte, wurden renitente Eigentümer von Grund und Boden mittels Artikel 14 GG daran erinnert, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch doch bitteschön auch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen solle – zumindest wenn die Allgemeinheit gerne Auto fährt und Kohle verheizt. Für Radwege oder Windräder wurde noch niemand enteignet. Und dass die Allgemeinheit heute auch nicht unbedingt etwas von den Dividenden der Aktiengesellschaften abbekommt, die aus dem enteigneten Grund und Boden Braunkohle schürfen, ist natürlich nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Was zählt, ist nicht die Umsetzung, sondern vielmehr der Gedanke.

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Interessant ist, dass in der Bundesrepublik regelmäßig im Namen des vermeintlichen Allgemeinwohls nach Artikel 14 Grundgesetz enteignet wird, eine Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz bis dato jedoch noch nie durchgeführt wurde – und dies obgleich die Väter und Mütter des Grundgesetzes dieser Möglichkeit ganz ausdrücklich einen Verfassungsrang zuschrieben. „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“ heißt es dort in der dem Grundgesetz so eigenen juristendeutschen Mischung aus Pathos und Bürokratie. Wenn also nun der finanzpolitische Sprecher der AfD twittertWer Enteignungen fordert, stellt sich gegen das Grundgesetz“, ist dies ebenso dämlich wie die Kommentare seiner Unions-Brüder im  Geiste Altmaier und Söder, die beim Berliner Volksbegehren zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gleich „Linkspopulismus“ und „Sozialismus“ wittern.

Derlei Populismus erinnert dann doch eher an den politischen Aschermittwoch als an ernsthafte politische Äußerungen. Dabei können sich die Besitzstandswahrer des Finanzkapitalismus doch ohnehin entspannt zurücklehnen. Selbst wenn es in Berlin nach dem Volksbegehren zu einem Volksentscheid kommen und dieser erfolgreich sein sollte, heißt dies noch lange nicht, dass die Politik sich an die Stimme des Volkes gebunden fühlt. Gerade der Berliner Senat ist bekannt dafür, das Ergebnis von Volksentscheiden schon mal auszusitzen oder komplett zu ignorieren.

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So paradox es klingt: Nach der Berliner Verfassung hat ein Volksentscheid eigentlich nur dann eine realistische Chance auf Umsetzung, wenn die Meinung des Volkes sich nicht von der Meinung der Senatoren unterscheidet. Und die SPD hat bereits klipp und klar erklärt, was sie von derlei linkspopulistischem Verfassungspatriotismus im Sinne des Allgemeinwohls hält – nichts. Auf die Genossen ist schließlich immer Verlass – zumindest wenn man Spekulant ist.

Aber spielen wir doch mal einen Moment mit dem Gedanken, es wäre echter Wahlkampf und die SPD würde für einen Moment so tun, als sei sie sozialdemokratisch. Wäre eine Enteignung – oder präziser Vergesellschaftung – der großen privaten Berliner Wohnungsgesellschaften denn überhaupt möglich? Frei nach Radio Eriwan müsste die Antwort „im Prinzip ja“ heißen; nur dass prinzipielle Antworten in der politischen Arena nicht viel zu sagen haben. Enteignungen und Vergesellschaftungen sind nach deutschem Recht – und das unterscheidet das Grundgesetz dann doch von Marx- und Engels-Schriften – zwar möglich; der Staat muss die Enteigneten jedoch entschädigen und Berlin ist bekanntlich arm, aber sexy, was jedoch bei der Enteignung auch nicht weiterhilft. Je nach Schätzung müsste Berlin die Besitzer der rund 240.000 Wohnungen, um die es geht, mit einer Summe zwischen 10 und 36 Milliarden Euro entschädigen. Dumm nur, dass Berlin dieses Geld überhaupt nicht hat.

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Das gleiche Grundgesetz, das Enteignungen und Vergesellschaftungen zum Wohle der Allgemeinheit vorsieht, verbietet es Bund und Ländern, sich das dafür nötige Geld über zusätzliche Kredite zu beschaffen. Dank der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse, die auch Berlin bis 2020 emsig umsetzen will erlaubt das Grundgesetz somit zwar die Vergesellschaftung privater Immobilienspekulanten, hindert die Allgemeinheit jedoch, sich das Geld zu beschaffen, das nötig ist, um die Spekulanten zu entschädigen. Sie sehen – Lenin hätte das anders gelöst.

Man sagt ja, Geschichte wiederhole sich nicht und wenn, dann nur als Farce. Da mag was dran sein. Die heutige Debatte rund um die Enteignung der Immobilienspekulanten erinnert in gewisser Weise frappierend an die geplante „Fürstenenteignung“ der 1920er. Auch damals missfiel es dem Volk, dass die großen Adelshäuser über Macht und Vermögen verfügten, das sie einsetzten, um Vermögen von unten nach oben zu verteilen. Die KPD initiierte dazu 1926 ein Volksbegehren zur Enteignung der großen Adelshäuser, das die SPD zuerst ablehnte, dann aber – nachdem sie erkannte, dass die meisten ihrer Wähler die Idee eigentlich prima fanden – zögerlich unterstützte. Das Volksbegehren hatte Erfolg, doch dann setzte das Großbürgertum und sein politischer Arm in der Reichsregierung alles daran, den folgenden Volksentscheid zu torpedieren. Mit Erfolg, die Fürsten behielten ihr Hab und Gut, das enttäuschte Volk verarmte weiter und wandte sich kurze Zeit später den Nazis zu. Aber wer lernt schon aus Geschichte?

Jens Berger

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»Keine Angst vor Enteignungen – sie kommen ja doch nicht« von Jens Berger / NDS, 12. April 2019 >> weiter.

»Mieterschutz und Bodenrevolution: Wien und Wohnen passte einst gut zusammen« von Franz Schandl / Streifzüge, 24. Dezember 2018 >> weiter.

»Der Weg zu mehr leistbarem Wohnraum führt über eine kluge Raumordnungspolitik« von Gerald Fröhlich / A&W blog, 07. November 2018 >> weiter.

»Verkämpft im Wohnungskampf? Über die Sackgassen der Wohnungspolitik« von Charles Pauli, 29. Oktober 2018 >> weiter.

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»Ausrichtung der Wohnungspolitik: Was tun gegen Mietenwahnsinn?« von Leo Mayer, 22. September 2018 >> weiter.

»Wohnverhältnisse in Deutschland: Mietbelastung, soziale Ungleichheit und Armut« von Sozialverband Deutschl. (SoVD), August 2018 >> weiter. (PDF)

»Wie viele und welche Wohnungen fehlen in deutschen Großstädten? Die soziale Versorgungslücke nach Einkommen und Wohnungsgröße« von Hans-Böckler-Stiftung, April 2018 >> weiter. (PDF)

»In Deutschlands Großstädten fehlen fast 2 Mio. bezahlbare Wohnungen.« von Hans-Böckler-Stiftung, 15. April 2018 >> weiter.

»Wohnen ist Menschenrecht für alle!« von Bündnis „AufRecht bestehen“, 12. März 2018 >> weiter.

»Feuchte Wände, kalte Wohnung, kein Auto. Wie sich Einkommensarmut im Alltag auswirken kann« von Laurenz Nurk, 2. Dezember 2017 >> weiter.

»Wohnen als Anlageobjekt, Zwangsräumung als Marktregulierung. Staatliches Hilfesystem funktioniert nicht mehr« von Laurenz Nurk, 29. Mai 2017 >> weiter.

»Wohnungsnot und Mieten: Pfusch am Bau« von Charles Pauli, 31. Oktober 2016 >> weiter.


► Quelle: Dieser Text erschien als Erstveröffentlichung am 10. April 2019 auf den „NachDenkSeiten – die kritische Website“ >> Artikel. Die Formulierungen der Übernahmebedingung für Artikel der NachDenkSeiten änderte sich 2017 und 2018 mehrfach. Aktuell ist zu lesen:

 

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KN-ADMIN Helmut Schnug suchte zur Rechtssicherheit ein Gespräch mit Albrecht Müller, Herausgeber von www.Nachdenkseiten.de und Vorsitzender der Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung (IQM) e. V. Herr Müller erteilte in einem Telefonat und nochmal via Mail am 06. November 2017 die ausdrückliche Genehmigung. NDS-Artikel sind im KN für nichtkommerzielle Zwecke übernehmbar, wenn die Quelle genannt wird. Herzlichen Dank dafür.

ACHTUNG: Die Bilder und Grafiken sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.

Bild- und Grafikquellen:

1. Protest für eine andere Wohnungspolitik 18.1.19: Bündnis Mietenwahnsinn Hessen anlässlich der Konstituierung des 20. Hessischen Landtags am 18.1.2019 am Rande der Bannmeile in Wiesbaden. Foto: Sebastian Scholl. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

2. WOHNEN IST MENSCHENRECHT: Protest für eine andere Wohnungspolitik 18.1.19: Bündnis Mietenwahnsinn Hessen anlässlich der Konstituierung des 20. Hessischen Landtags am 18.1.2019 am Rande der Bannmeile in Wiesbaden. Foto: Sebastian Scholl. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

3. Wohnen ist Menschenrecht für alle! Foto: StockSnap. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

4. Schriftzug Berlin. Illustration: Wibke. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.