Gesellschafts- und Zeitkritik von Erich Kästner:
Große Zeiten
Der deutsche Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter Erich Kästner (* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München) hatte in seinen Berliner Jahren von 1927 bis zum Ende der Weimarer Republik 1933 seine produktivste Zeit. In wenigen Jahren stieg er zu einer der wichtigsten intellektuellen Figuren Berlins auf.
Erich Kästner hat sich, anders als die allermeisten seiner verfemten Kollegen, nicht aus dem Staub gemacht nach der unheilvollen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Er arrangierte sich mit dem erdrückenden Terror, ohne ihm jemals zu dienen. Und doch wurde ihm sein Verbleib im Lande nachher immer wieder barsch zum Vorwurf gemacht; bis hin zu der schneidenden Annahme, der lediglich stille Widerstand des im NS-Regime verbotenen Literaten sei eine Bestätigung für dessen immerzu unpolitische Haltung gewesen.
So zumindest will es bis heute die bundesrepublikanische Erzählung, die Kästner nur mehr als Schöpfer netter Kindergeschichtchen und als bloßen Märchenonkel in der »Hall of Fame« des deutschen Dichtertums duldet. Wie so häufig liegt aber auch hier ein hegemonialer Narrativ weit jenseits der Wahrheit.
Allerdings unterschätzte Kästner die Nazis maßlos. Nicht etwa in ihrer grundsätzlichen Gefahr. Er glaubte aber, der Spuk sei nach kurzer Zeit wieder vorbei. Auch der Zweite Weltkrieg und der Holocaust überstiegen bei weitem seine düstersten Vorahnungen. So sah er sich im Nazi-Reich gefangen und geknebelt, hoffend, dass es schnell vorüber sein mochte. Als »Kulturbolschewist« mit einem Schreibverbot belegt, durfte er hin und wieder doch unter Pseudonym arbeiten. Das noch heute in Expertenkreisen als herausragend betrachtete Drehbuch zu dem NS-Durchhalteprojekt »Münchhausen« stammt aus Kästners Feder.
Erich Kästner zählt in der Weimarer Republik zu den so genannten "Gebrauchslyrikern". Es handelt sich um Autoren, die mit ihren Gedichten Gesellschaftskritik zum Ausdruck bringen wollen und dies in einer klaren Sprache tun, damit der Normalbürger in seinem Alltag erreicht wird. Gedichte, die einfach nur schön klängen, statt die Realität des alltäglichen Leben zu behandeln, seien nichts als „Reimspielereien“, so Kästner. Mit der Sprache seilzutanzen, das gehöre ins Varieté. Kästners Gedichte legen die politischen Anschauungen des Autors offen und sind ein Spiegel des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Weimarer Republik. 1931 veröffentlichte er ein kurzes Gedicht mit dem Titel 'Große Zeiten'. Es geht darin um die Zeit in personifizierter Form und ist als Gesellschaftskritik zu verstehen, die Kästner sprachlich versteckt und gleichzeitig versucht aufzudecken.
Die vier Abschnitte des Gedichts 'Große Zeiten' haben bis heute nicht an Bedeutung verloren - im Gegenteil. Viele Menschen sind froh, wenn es ihnen gelingt, die Zeit totzuschlagen, die sie ständig zu sparen versuchen. Die Freizeitindustrie boomt dank einer kollabierenden Spaß- und Erlebnisgesellschaft. Corona wird das nur zeitweise einschränken. Die Vergnügungskultur und die mit ihr einhergehende Übertechnisierung mündet in einen Technikwahn. Entfremdung, Entgrenzung, Entmenschlichung, Reizüberflutung und Technosstress sind nur einige der für Körper, Geist, Psyche und Seele ungesunden Folgen.
Fortschritt kann also auch Rückschritt bedeuten! Es braucht Intelligenz, Wissen, Bewußtsein, Selbstdisziplin, Mut und natürlich den eigenen Willen, sich zumindest den schädlichen Aspekten einigermaßen erfolgreich zu widersetzen. So schrieb Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes. Außer: Man tut es!«
Große Zeiten
Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.
Der Optimistfink schlägt im Blätterwald.
Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
sind glücklich, daß sie einen Vogel haben.
Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.
Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemie.
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.
Erich Kästner
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Erich Kästner – Sein Leben und sein Werk. (Dr. Birgit Ebbert) >> weiter.
Erich Kästner Gesellschaft e.V. >> weiter.
Erich Kästner auf Wikipedia >> weiter.
Erich Kästners politische Dichtung. Gesellschaftskritik und Visionen eines Gebrauchslyrikers. (Examensaufsatz von Sverker Kock, 2015, Universität Lund >> weiter.
Studien zum Werk Erich Kästners mit besonderer Berücksichtigung der sozialkritischen Elemente. (Renate Benson, 1970. - (* 3. August 1938 in Tilsit/D; † 1. April 2018 in Toronto). Sie wuchs in Deutschland auf und emigrierte nach ihrem Studium an der Universität Köln 1962 nach Montreal, wo sie an der McGill University in deutscher Literatur promovierte. Von 1966 bis 1999 war sie Professorin am Department of Languages der University of Guelph (U of G). Sie gründete das 'European Studies Programm' der Universität und war eine Autorität auf dem Gebiet der modernen deutschen Literatur mit Arbeiten, die auf Englisch, Deutsch und Japanisch veröffentlicht wurden. >> weiter.
Zwischen Moral und Politik: Zu Erich Kästners engagierter Lyrik. 1928-1932 im Kontext der Zeit. (Masterarbeit von Roos Verhamme, 2010) >> weiter.
Lyrik für die Ewigkeit: Erich Kästners Ansprache an Millionäre >> Helmut Schnug, Kritisches-Netzwerk >> weiter.
Gesellschafts- und Zeitkritik von Erich Kästner: Große Zeiten >> Helmut Schnug, Kritisches-Netzwerk >> weiter.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Emil Erich Kästner (* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter. Erich Kästners publizistische Karriere begann während der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays in verschiedenen renommierten Periodika dieser Zeit. Das Foto zeigt Kästner am 28. August 1961.
„Was auch immer geschieht: Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“ (Zitat aus »Gesang zwischen den Stühlen«, ein 1932 erschienener Gedichtband von Erich Kästner). Foto OHNE Inlet: asch, [...] / Opdracht Anefo. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei wird unter der Creative-Commons-Lizenz „CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright“ zur Verfügung gestellt. Die Person, die das Werk mit diesem Dokument verbunden hat, übergibt dieses weltweit der Gemeinfreiheit, indem sie alle Urheberrechte und damit verbundenen weiteren Rechte – im Rahmen der jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen – aufgibt. Das Werk kann – selbst für kommerzielle Zwecke – kopiert, modifiziert und weiterverteilt werden, ohne hierfür um Erlaubnis bitten zu müssen. Das Inlet wurde von Wilfried Kahrs (WiKa) eingearbeitet.
2. Reizüberflutung: Die Freizeitindustrie boomt dank einer kollabierenden Spaß- und Erlebnisgesellschaft. Corona wird das nur zeitweise einschränken. Die Vergnügungskultur und die mit ihr einhergehende Übertechnisierung mündet in einen Technikwahn. Entfremdung, Entgrenzung, Entmenschlichung, Reizüberflutung und Technosstress sind nur einige der für Körper, Geist, Psyche und Seele ungesunden Folgen. Foto: geralt / Gerd Altmann, Freiburg. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
3. Ziffernblatt einer antiken Uhr. Foto: Skitterphoto - Rudy and Peter Skitterians, Groningen / The Netherlands. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
4. Mann am Baum lehnend mit Blick in die Landschaft. Das Licht der Sonne braucht 8 Minuten, um die Erde zu erreichen. Wenn ich die Sonne ansehe, blicke ich also zurück in die Vergangenheit. Merkwürdig, alles braucht seine Zeit und doch ist es immer JETZT. Foto: josealbafotos - Jose Antonio Alba, Lleida/España. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
5. Alter Mann mit Taschenuhr. Schaut nicht auf die Uhr, sondern schaut euch um. Schaut genau hin, denn bald gibt es euch nicht mehr. Nicht in dieser Form. Dann ist die Chance dahin, eure Seele mit purer irdischer Schönheit zu füttern und damit euch selbst. Denn eines ist klar: Ihr lebt nicht in eurem Körper, euer Körper lebt und stirbt in euch. Und was er an Sinneseindrücken liefert, bestimmt die Leichtigkeit eures jetzigen und zukünftigen Seins. Foto: ljcor. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
6. Coronapsychose: Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung. Die Dummheit wurde zur Epidemie. Foto: Belfer_na_propsie / Adam Głowacki, Piotrków Trybunalski / Polska. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.