Neoliberales Denken verklebt die Herzen und Hirne
von Marcus Klöckner / NachDenkSeiten im Interview mit Heike Leitschuh
Wird unsere Gesellschaft zunehmend unsolidarischer? Ja, findet die Frankfurter Autorin Heike Leitschuh. Eigene Beobachtungen in ihrem Umfeld, aber auch Nachrichten aus den Medien hat Leitschuh zum Anlass für eine Recherche genommen, um der Frage nachzugehen, wie stark der Egoismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Ihr Ergebnis: Viele Bürger denken in erster Linie an sich selbst.
Dieses Verhalten, so sieht es die Journalistin, ist vor allem an der neoliberalen Ordnung festzumachen, die in Politik und Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten vorherrscht. Und: Politiker, aber auch die sogenannten Eliten, lebten ein negatives Verhalten vor, das dann auch bei den Bürgern zum Vorschein kommt. Ein Interview über eine „Kultur des Miteinanders“, die nicht mehr normal ist, so Leitschuh.
Marcus Klöckner: Frau Leitschuh, wie kommen Sie darauf, zum Thema Egoismus in unserer Gesellschaft zu recherchieren?
Heike Leitschuh: Seit einigen Jahren sehe ich immer deutlicher, dass sich die Kultur des Miteinanders verändert hat. Gerade im öffentlichen Bereich, also wenn man auf der Straße entlangläuft, in der Bahn fährt, oder auch in den Geschäften: Mir fällt immer wieder eine Ruppigkeit im Umgang miteinander auf, die nicht normal ist. Ich habe mich gefragt: Woher kommt das? Warum können die Menschen nicht etwas respektvoller, freundlicher, rücksichtvoller miteinander sein?
Marcus Klöckner: Und, können sie?
Heike Leitschuh: Sie können schon. Und auch dafür gibt es Beispiele. Aber gerade die positiven Beispiele wirken wie ein Kontrastmittel, das einem zeigt, wie krass Menschen in der Öffentlichkeit miteinander umgehen.
Marcus Klöckner: Gab es einen konkreten Auslöser, der Sie zu dem Thema geführt hat?
Heike Leitschuh: Den gab es. In Hessen, wo ich lebe, sollen Rettungsfahrzeuge innerhalb von 10 Minuten bei Patienten oder Unfallopfern sein. Die Rettungskräfte können diese Zeit aber oft nicht einhalten, weil sie immer wieder zu Bagatellfällen gerufen werden.
Marcus Klöckner: Das heißt?
Heike Leitschuh: Menschen haben offensichtlich keine Hemmungen, einen Rettungswagen für absolute Kleinigkeiten, wie einen Zeckenbiss, einen verletzten Finger, Kopfschmerzen oder ähnliches, zu rufen. Dieses Verhalten führt dazu, dass Rettungskräfte bei wirklich schweren Fällen nicht rechtzeitig ankommen können. Normal wäre es, dass die Patienten, die lediglich eine Kleinigkeit zu beklagen haben, mit gesundem Verstand abwägen und sich bewusst machen, dass ihr „Leid“ nicht an erster Stelle steht und sie keinen Rettungswagen brauchen, sondern sich selber helfen oder zum Hausarzt gehen können. Wir sehen hier eine Einstellung, nämlich: Ich zuerst!, die sich in vielen Bereichen unseres Lebens zeigt.
Dieses Verhalten setzt sich fort in den Notaufnahmen von Krankenhäusern, wo auch oft Menschen mit Kleinigkeiten sitzen, aber sogar anfangen zu randalieren, wenn Sie nicht sofort drankommen. Ganz zu schweigen von Sportplätzen, wo Eltern, die ihre Kinder anfeuern, sich oft völlig unflätig benehmen. Das geht soweit, dass die Spieler gegnerischer Teams auf das Übelste beleidigt werden und nicht einmal Schiedsrichter verschont bleiben.
Ob auf der Straße, in den Krankenhäusern, auf Sportplätzen, in Kitas, Schulen usw., also überall dort, wo Menschen auftreten, stimmt mehr und mehr das Grundlegende nicht mehr.
Marcus Klöckner: Was sind denn die Ursachen für dieses Verhalten?
Heike Leitschuh: Ja, was ist mit den Menschen los? Meine Antwort lautet: Seit fast 30 Jahren haben wir hier im Land eine Grundhaltung in Politik und Wirtschaft, die die Bürger darauf trimmt, ihr Ego in den Vordergrund zu stellen. Ich muss mein Leben soweit optimieren, dass ich im täglichen Konkurrenzkampf gut bestehe, in allen Bereichen, selbst bei der Partnerwahl. Alles muss sich rechnen, alles wird einer Kosten-Nutzung-Rechnung unterzogen. Stimmt das, was bei dieser Rechnung rauskommt, für mich nicht, dann kann ich das nicht akzeptieren. In so einem Umfeld ist es nur logisch, wenn viele Bürger zu „Ichlingen“ werden.
Marcus Klöckner: Sie sprechen vom Neoliberalismus?
Heike Leitschuh: Ja. Alles wird kommerzialisiert, dereguliert. Die Idee des Neoliberalismus ist ja, dass größtmögliche Freiheit für die Wirtschaft den größtmöglichen Nutzen für alle bringt. Das stimmt so aber nicht. Freiheit ohne Regeln nützt nur den Starken. Die Schwachen bleiben auf der Strecke. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn wir uns die Reichtums- und Armutsverteilung anschauen.
Auch wenn es mittlerweile Gegentendenzen gibt und so manchem klar wird, welche Schäden der Neoliberalismus anrichtet: Die Auswirkungen der letzten 30 Jahre kann man nicht auf Knopfdruck abstellen. Leider hat sich vieles schon in den Herzen und Hirnen festgesetzt und sie verklebt. Zum Beispiel meinen inzwischen viele, dass die Schwachen selbst schuld sind an ihrer Lage. Deshalb schwindet die Solidarität. Gerade die kulturellen Wirkungen werden jetzt also erst richtig sichtbar – quasi als Kollateralschaden des Wirtschaftsliberalismus.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage sicher nicht, dass alle Menschen Egoisten sind, aber dennoch beschäftigen sich viele von ihnen aufgrund der Ordnung, die sie umgibt, so sehr mit sich selbst, dass sie so handeln, als seien sie Egoisten. Der Riss geht durch uns hindurch: Wir können hilfsbereit sein, aber auch unsympathische Ichlinge. Das Zwischenmenschliche gerät unter die Räder. Ich muss jetzt von A nach B. Ich muss jetzt meinen Job machen. Ich muss jetzt dieses und jenes Produkt kaufen. Ich muss jetzt als Erste an der Kasse sein. Ich, ich, ich.
Hinzu kommen die Ängste, die in der neoliberalen Ordnung entstanden sind. Angst, nicht gut genug zu sein. Angst, nicht mithalten zu können. Angst, nicht ganz vorne dabei zu sein. Angst, seinen Job zu verlieren. Angst, abzustürzen usw. Der Neoliberalismus, aber auch das Unmenschliche und Unüberschaubare in der Globalisierung, verängstigt Menschen.
Marcus Klöckner: Wir haben jetzt über die Bürger geredet. Aber wie sieht das Verhalten der Verantwortungsträger auf politischer Seite aus?
Heike Leitschuh: Da wird es leider auch düster. Viele Politiker leben den Bürgern nichts Gutes vor. Die ganze Palette an schlechten Eigenschaften können wir immer wieder aufseiten der sogenannten Eliten beobachten. Auch da sehen wir Personen, die immer nur auf das eigene Vorwärtskommen achten. Sie machen gravierende Fehler, sind aber nicht bereit, für ihr Fehlverhalten geradezustehen.
Manager, die fatale Weichenstellungen vornehmen, werden mit Millionen Euro abgefunden. Politiker und Politikerinnen haben mit zur sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft beigetragen, aber müssen sich nicht verantworten. Der normale Bürger beobachtet dieses Verhalten und sagt sich: Wenn die sich nicht an Regeln halten, muss ich es auch nicht.
Marcus Klöckner: Der Umgang von Politikern miteinander, gerade im Parlament, überschreitet bisweilen auch Grenzen. Erinnert sei an Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der zu seinem Parteikollegen Wolfgang Bosbach sagte: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“.
Heike Leitschuh: Auch im Parlament zeigen Politiker, dass es vielen an Respekt vor ihrem Gegenüber fehlt. Natürlich soll man sich in einem Parlament auch streiten. Debatten müssen geführt werden, durchaus auch heftig. Es geht ja um was. Aber eine gewisse Form muss man doch wahren. Wenn man seine politische Gegnerin verachtet und als Idiotin hinstellt, dann ist das alles andere als ein gutes Vorbild – gerade dann nicht, wenn man die Diskussionskultur im Netz beklagt. Mit der AfD verschärft sich der Ton im Parlament auch nochmal. Auf keinen Fall aber dürfen die Rechtspopulisten die Kultur bestimmen.
Marcus Klöckner: Haben wir es in unserer Gesellschaft verlernt, uns auf anständige Weise zu streiten? Gerade auch in den Medien werden viele Debatten doch gar nicht mehr geführt. Der Meinungskorridor hat sich extrem verengt, offene Debatten werden immer schwerer. Stimmen Sie den Aussagen zu?
Heike Leitschuh: Die Fähigkeit zum zivilisierten und respektvollen Streiten scheint uns in der Tat weitgehend abhanden zu kommen. Ich beobachte außerdem, dass sich viele in ihre Echokammern zurückziehen. Ob das Medien oder Bürger sind: Viele wollen am liebsten nur unter sich sein.
Der Soziologe Andreas Reckwitz stellt fest, dass die Schichten und Kulturen kaum noch miteinander in Kontakt sind. Früher saßen die Lehrerin, der Handwerker, die Pfarrerin und der Koch im Wirtshaus gemeinsam am Tisch. Da wurde diskutiert und man hatte Kontakt zu Andersdenkenden. Heute geht man dahin, wo Leute sind, die so aussehen, so denken, so handeln wie ich. Das Schlimme am aktuellen Zustand ist, dass viele meinen, sie wüssten alles besser, der Respekt vor den anderen geht völlig verloren.
Marcus Klöckner: Wie lässt sich die Situation verändern?
Heike Leitschuh: An zwei Stellen muss angesetzt werden. Beim Individuum und der Politik. Von der Politik erwarte ich, dass sie konsequent überprüft, was sie falsch gemacht hat und falsch macht. Welche Weichen hat sie gestellt, die mit aller Konsequenz nur noch das Ich fördern, während das Wir völlig reduziert wird?
Ich erwarte weiter von der Politik, dass sie auch den ganzen Bereich der Deregulierung von öffentlicher Daseinsvorsorge, Wasserversorgung, Öffentlichem Verkehr usw. rückgängig macht. Mittlerweile haben wir Krankenhäuser, die in Konkurrenz zueinander stehen. Da geht es vor allem um ökonomische Interessen. Das ist doch komplett absurd und gefährlich obendrein.
Außerdem muss die Regierung sich dringend für eine gerechtere Besteuerung einsetzen und alle Steuerschlupflöcher schließen, die Finanzmärkte konsequent regulieren. Es muss verhindert werden, dass immer noch mehr Millionäre entstehen. Und die Reichen müssen einfach mehr zahlen. Wer reich ist, kann auch mehr für das Gemeinwesen tun.
Und ich würde dringend raten, genauer hinzusehen, wo überall in der Gesellschaft − gerade junge − Menschen an alternativen Konzepten für ein Leben und Wirtschaften jenseits von Wachstum und Neoliberalismus arbeiten. Aus diesen vielen kleinen Pflänzchen kann was Großes entstehen. Wenn man sie unterstützt.
Von den Bürgerinnen und Bürgern erwarte ich aber auch, dass sie sich über ihr eigenes Verhalten Gedanken machen. Sie sollten sich fragen:
• Wie verbringe ich meinen Tag?
• Lebe ich verantwortungsvoll?
• Habe ich Zeit, um mich mal um meinen Nachbarn zu kümmern?
• Kann ich irgendwo helfen, wenn Hilfe benötigt wird?
• Oder bin ich dauernd nur mit mir, meinem Konsum und meinem Smartphone beschäftigt?
Oft sind es nur Kleinigkeiten, die aber dann in ihrer Gesamtheit viel bewirken können.
Marcus Klöckner / NachDenkSeiten im Interview mit Heike Leitschuh
Heike Leitschuh, Jahrgang 1958, hat Politikwissenschaften in Marburg studiert und war Redakteurin im Fachverlag der Ökologischen Briefe. Als selbständige Journalistin, Autorin, Moderatorin und Beraterin konzentriert sie sich vor allem auf Themenbereiche der zukunftsfähigen Unternehmensentwicklung, Postwachstumsökonomie, Transformationsprozesse und Nachhaltigkeit. Ihre Arbeiten wurden vielfach in Fach- und Publikumszeitschriften publiziert. Heike Leitschuh ist Autorin und Mitherausgeberin mehrerer Bücher und wohnt in Frankfurt am Main.
Webseite und Kontakt >> http://www.heike-leitschuh.de/ .
Lesetipp: Leitschuh, Heike: »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].
Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?
Neoliberales Gedankengut schadet unserer Gesellschaft und lässt die Solidarität und den Respekt der Menschen untereinander schwinden. Immer mehr Menschen denken nur noch an sich, an die Karriere und die eigenen Bedürfnisse und behandeln ihre Mitmenschen deshalb mitunter wie den letzten Dreck. In der Politik und den Medien wird das Problem vernachlässigt und in seiner ganzen Tragweite bislang überhaupt nicht erkannt. Höchste Zeit also, umzudenken und gegenzusteuern, sowohl mit einer anderen Politik, als auch bei jedem Einzelnen von uns. Denn keiner will in einem Land leben, in dem jeder nur noch sich selbst der Nächste ist und nur noch das zählt, was sich rechnet. (Klappentext).
Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«.
Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?
Bestimmt kennen auch Sie Beispiele aus Ihrem Alltag, bei denen Sie sich mächtig über Ihre Mitmenschen ärgern. Nicht nur beim Autofahren, nein, das ist ja ein ganz alter Hut. Aber vielleicht wenn Ihnen mal wieder jemand ganz charmant die Schwingtür im Kaufhaus vor die Nase knallt. Oder wenn mal wieder jemand im Zug oder im Restaurant neben Ihnen sinnlos laut telefoniert. Oder wenn die jungen Mütter neben Ihnen im Café seelenruhig ihre Latte Macchiato trinken, während ihre Kinder die Gäste tyrannisieren. Vielleicht haben Sie dann auch schon mal gedacht: »Die Leute werden doch immer egozentrischer!«
Das mögen kleinere Irritationen und Unpässlichkeiten des Alltags sein. Doch es kommt immer schlimmer. Bei mir brachten drei Meldungen das Fass zum Überlaufen. In dem Sinne, dass ich keine Lust mehr hatte, mir das alles entgeistert anzusehen, sondern mich zumindest auf diesem Wege, also mit dem Buch, zu wehren: Die Nachrichten, dass Patienten die Erste-Hilfe-Notaufnahme mit einer Lappalie missbrauchen und dann dort auch noch randalieren. Weil es ihnen zu langsam geht. Die Nachrichten, dass Gaffer sich an Unfällen aufgeilen, filmen und die Rettungskräfte behindern. Auch aktiv. Die Nachrichten, dass von Jahr zu Jahr mehr Bahnbedienstete beleidigt und auch körperlich attackiert werden. Teils heftig. Ich wollte genauer wissen, was in unserem Land vorgeht, und habe mit Menschen gesprochen, die selbst zum Opfer wurden. Was sind die Ursachen dieses brutal rücksichtslosen Verhaltens, wollte ich wissen. Und gibt es Auswege?
Vor ein paar Jahren schon war mir ein vermehrt rüpelhaftes Verhalten im Alltag aufgefallen. »Die Flegel« wollte ich mein Buch zunächst nennen und vor allem über Beschäftigte in Unternehmen schreiben, die unter dem oft unverschämten Verhalten ihrer Kunden leiden. Interviews bei Fluggesellschaften, im Einzelhandel oder bei der Bahn bestätigten meine These, dass es da ein echtes Problem gibt. Allerdings wollten die Unternehmen darüber nicht öffentlich reden, denn schließlich wollten sie ihre Kunden nicht kritisieren. Ich sah keine Chance, genügend Informationen zu bekommen, und so legte ich das Projekt erst einmal beiseite. Dann erschien 2012 das Buch des Journalisten Jörg Schindler Die Rüpel-Republik, das unsoziales Verhalten in der Gesellschaft generell aufs Korn nahm. Ich fand das Buch sehr gut und ließ meine Idee fallen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, Schindlers Ergebnissen noch etwas Neues hinzuzufügen.
Doch einige Jahr später hat sich die Lage geändert, und zwar zum Schlechteren. Sei es im Zug, im Café, im Krankenhaus oder in der Politik: Das Rüpelhafte ist in der Öffentlichkeit zur Normalität geworden und es setzt sich zunehmend im privaten Leben fort. Heute gibt es noch weit mehr Anzeichen dafür, dass sich der Umgang der Menschen untereinander erheblich verschlechtert hat, und es gibt auch einen neuen Befund: Es ist nicht nur das Benehmen, das zu wünschen übrig lässt. Es geht viel tiefer. Empathie und Solidarität, zwei ganz wesentliche Grundpfeiler einer humanen Gesellschaft, erodieren zunehmend. Das ist zumindest meine Wahrnehmung, und es ist die Wahrnehmung vieler Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe. Auch mit der Deutschen Bahn, die nun über das Problem redet. Offenbar ist eine Schmerzgrenze überschritten.
Immer häufiger treffen wir auf Zeitgenossinnen1, die sich selbst extrem wichtig nehmen. So wichtig, dass sie alle paar Meter ein Foto von sich aufnehmen und das dann in die Welt verschicken müssen. Die Selfie-Manie ist der oberflächliche Ausdruck einer Entwicklung, bei der das Ich immer wichtiger wird und das Wir an Bedeutung verliert. Unter der Egomanie leiden Beziehungen, im Kleinen wie im Großen. Dieser Ego-Kult ist ein Teil dessen, um das es mir geht. Es ist sogar noch der harmlosere Teil, wenn Menschen versuchen, ihren Körper, ihre Erscheinung, ihr ganzes Leben zu optimieren – um im täglichen Konkurrenzkampf besser bestehen zu können. Die Ursachen dafür sind keineswegs trivial, die Erscheinungsformen schon eher.
Ist die gesamte Gesellschaft auf dem Ego-Trip? Zum Glück (noch) nicht. Es gibt jedoch ernsthafte Anzeichen dafür, dass dies eines Tages so sein könnte – wenn wir nicht höllisch aufpassen. Schon jetzt ist deutlich erkennbar, dass eine Ideologie, die nur für wertvoll hält, was sich ökonomisch rechnet, die die Menschen in eine fortwährende Konkurrenz zueinander schickt, tiefe Spuren in unseren Herzen und Hirnen hinterlassen hat. Meine Gespräche und Recherchen haben dafür etliche und deutliche Anzeichen ergeben.
Sie werden sich die Frage stellen, ob es schon mal besser war mit der Solidarität. Die Antworten fallen wohl unterschiedlich aus, je nach den Lebenserfahrungen und -umständen. Was ist der Bezugspunkt für den Vergleich? War es früher tatsächlich besser? Wenn ja, wann und warum? Wie hat sich Solidarität historisch entwickelt? Nehmen wir das Thema Flüchtlinge: Auf der Flucht vor Nazideutschland wurden Juden keineswegs überall mit offenen Armen empfangen. So wenig wie die Sudentendeutschen nach dem Krieg. Was also ist meine Referenz, wenn ich sage, solidarisches Verhalten ist auf dem Rückzug? Vieles ist empirisch nicht klar nachvollziehbar, Daten und Fakten gibt es dazu nicht. Dennoch haben, so wie ich, viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, das Gefühl, dass unsere Kultur und unsere Gesellschaft derzeit einen Umbruch erleben. Alle haben dazu ihre ganz eigenen Geschichten. Und es ist mehr als ein Gefühl, dafür sind die Beispiele zu zahlreich und wiederkehrend.
Ich erzähle die Geschichten von Menschen aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, und ich erzähle die Geschichten, die ich selbst erlebt habe. Das zusammen ergibt ein Bild, das nicht immer eindeutig und manchmal sogar widersprüchlich erscheint. Deutlich wird jedoch, dass wir uns ändern müssen, um nicht bald schon in einem Land leben zu müssen, in dem sich jeder nur noch selbst der Nächste ist.
Heike Leitschuh, September 2018
Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].
► Quelle: Dieser Text erschien als Erstveröffentlichung am 10. November 2018. auf den „NachDenkSeiten – die kritische Website“ >> Artikel. Die Formulierungen der Übernahmebedingung für Artikel der NachDenkSeiten änderte sich 2017 und 2018 mehrfach. Aktuell ist zu lesen: "Sie können die NachDenkSeiten auch unterstützen, indem Sie unsere Inhalte weiterverbreiten – über ihren E-Mail Verteiler oder ausgedruckt und weitergereicht. Wenn Sie selbst eine Internetseite betreiben, können Sie auch gerne unsere Texte unter Nennung der Quelle übernehmen. Schreiben Sie uns einfach kurz an redaktion(at)nachdenkseiten.de und wir geben Ihnen gemäß unserer Copyrightbestimmungen eine Erlaubnis."
KN-ADMIN Helmut Schnug suchte zur Rechtssicherheit ein Gespräch mit Albrecht Müller, Herausgeber von www.Nachdenkseiten.de und Vorsitzender der Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung (IQM) e. V. Herr Müller erteilte in einem Telefonat und nochmal via Mail am 06. November 2017 die ausdrückliche Genehmigung. NDS-Artikel sind im KN für nichtkommerzielle Zwecke übernehmbar, wenn die Quelle genannt wird. Herzlichen Dank dafür.
ACHTUNG: Die Bilder, Grafiken, Illustrationen und Karikaturen sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Einfärbung von Textpassagen im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.
► Bild- und Grafikquellen:
1. ICH - ANDERE. Illustration: KasparLunt / Kaspar Lunt, Kiel. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.
2. Butterwegge-Zitat:
»Die Ökonomisierung des Sozialen wird durch den Neoliberalismus befördert, also eine Wirtschaftstheorie, die ganz auf den Markt setzt und längst aus einer bloßen Wirtschaftstheorie zu einer alle Poren der Gesellschaft durchdringenden Weltanschauung, ja zu einer politischen Zivilreligion avanciert ist. Alles, was das Soziale betrifft, wird mehr und mehr einem ökonomischen Kalkül unterworfen. Um den "Um-" bzw. Abbau des Sozialstaates zu legitimieren, stellt der Neoliberalismus bisher allgemein verbindliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf. Galt früher der soziale Ausgleich zwischen den Klassen und Schichten als erstrebenswertes Ziel staatlicher Politik, so steht heute nach offizieller Lesart den Siegertypen alles, den "Leistungsunfähigen" oder "-unwilligen" höchstens das Existenzminimum zu. Das widerspricht den Artikeln 20 und 28 GG.« (Prof. Dr. Christoph Butterwegge)
>> Zitat aus »Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus", Beltz Verlag 2018, herausgegeben von Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges / Bettina Lösch. ISBN 978-3-7799-3776-0. >> Buchvorstellung.
Foto ohne Textinlet: © Raimond Spekking, Software-Berater und freier Fotograf >> https://www.mediawiki-beratung.de/. Quelle: Wikimedia Commons. Bildbeschreibung: MAISCHBERGER am 24. Januar 2018 in Köln. Produziert vom WDR. Thema der Sendung: »Ganz unten: Wie schnell wird man obdachlos?« Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“ (CC BY-SA 4.0). Bildbearbeitung (Inlet): Wilfried Kahrs nach einer Idee von KN-ADMIN Helmut Schnug.
3. Buchcover: »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip« von Heike Leitschuh. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].
Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?
Neoliberales Gedankengut schadet unserer Gesellschaft und lässt die Solidarität und den Respekt der Menschen untereinander schwinden. Immer mehr Menschen denken nur noch an sich, an die Karriere und die eigenen Bedürfnisse und behandeln ihre Mitmenschen deshalb mitunter wie den letzten Dreck. In der Politik und den Medien wird das Problem vernachlässigt und in seiner ganzen Tragweite bislang überhaupt nicht erkannt. Höchste Zeit also, umzudenken und gegenzusteuern, sowohl mit einer anderen Politik, als auch bei jedem Einzelnen von uns. Denn keiner will in einem Land leben, in dem jeder nur noch sich selbst der Nächste ist und nur noch das zählt, was sich rechnet.