Die Menschheitsfamilie
„Die Demokratie ist nur zu retten, wenn die Würde aller geschützt wird“, lautete der Tenor einer Podiumsdiskussion mit Gerald Hüther, Christian Wulff, Tracy Osei-Tutu und Simon Marian Hoffmann.
von Nina Forberger, Madita Hampe / RUBIKON
In der Rubikon-Diskussionsrunde am 17. Mai 2019 in Hannover prallten Welten aufeinander. Moderator Jens Lehrich vermittelte zwischen einem Hirnforscher, dem Ex-Bundespräsidenten sowie zwei Vertretern der Demokratischen Stimme der Jugend (DSDJ), Tracy Osei-Tutu und Simon Marian Hoffmann. Deutlich wurde dabei nicht nur die politische Dimension von Würde und Demokratie in unserer heutigen Gesellschaft, sondern auch die unbedingte Notwendigkeit eines offenen Generationendialoges.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So lautet Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen bietet in unserer Gesellschaft die Grundlage für ein respektvolles Miteinander. In einer funktionierenden Demokratie sollte aus der Achtung der Würde folgen, dass alle Menschen gleichermaßen in Entscheidungsfindungen und Diskurse einzubinden und ihre Bedürfnisse zu beachten sind. Dieser Diskurs sollte dabei stets auf Augenhöhe stattfinden.
Im Zeitalter der Digitalisierung stehen wir als Gesellschaft vor der Herausforderung, das Internet und soziale Medien als demokratische Orte zu gestalten, an denen die Würde jedes Menschen geachtet wird. Das bedeutet, dass das Internet ein zensur- und überwachungsfreier Raum werden muss und scheinbare Anonymität in sozialen Netzwerken nicht dazu führen darf, dass wir uns gegenseitig wie Objekte behandeln.
Daher ist es wichtig, dass wir trotz der vielen Vernetzungs- und Informationsmöglichkeiten, die uns das Internet bietet, den persönlichen Diskurs nicht vergessen oder gar verlernen. Junge Menschen dürfen nicht auf die Generation Z reduziert werden, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Deren Präsenz und deren Themen dürfen nicht leichtfertig ins Internet „abgeschoben“ werden.
In einer demokratischen Gesellschaft müssen junge und alte Menschen in Kontakt treten. Wir bilden gemeinsam unsere Gesellschaft. Deshalb müssen wir der Politik die Themen diktieren und selbst aktiv unser Leben gestalten können. Die Themenfindung und die daraus folgende demokratische Partizipation müssen in einem Dialog auf Augenhöhe geschehen. Damit sich alle Menschen geachtet fühlen, erfordert dieser Diskurs immer Empathie. Nur in einem respektvollen Dialog lernen wir, auch nonverbale Signale, das heißt Gestiken und Gefühle, überhaupt wahrzunehmen und ins Mitgefühl mit unserem Gesprächspartner zu gehen.
Wenn es um Fragen über unsere Zukunft als Gesellschaft und unser Zusammenleben geht, ist ein gemeinsames Menschenbild die entscheidende Grundlage für eine zielführende Diskussion. Stimmt das Menschenbild der Teilnehmer nicht überein, reden sie in der Diskussion nur aneinander vorbei. Ohne diese gemeinsame Grundlage kann es keine weiteren Schnittmengen geben. Die Podiumsdiskussion offenbarte, dass das Menschenbild von Tracy und Simon, Gerald Hüther und Christian Wulff nicht zusammenpasst.
Obwohl Hüther zu Anfang die wichtige Feststellung trifft, dass Denken, Fühlen und Handeln neurowissenschaftlich nicht zu trennen sind, wird im Laufe der Diskussion eines immer deutlicher: Direkt durch Moderator Jens Lehrich verläuft eine vertikale Trennlinie zwischen den beiden Altersgruppen. Hier standen wissenschaftliche Argumentation und politische Öffentlichkeitsarbeit auf der einen Seite Emotionalität und Wärme auf der anderen gegenüber.
Dabei darf man nicht vergessen, dass auch die vermeintlich sachlichen, vernünftigen und kognitiven Argumente von Hüther und Wulff auf ihren eigenen Emotionen und ihrer persönlichen Prägung basieren. Die verschiedenen Beteiligten schwingen auf komplett unterschiedlichen Frequenzen. Und die eine Seite bemerkt nicht, dass es der anderen nicht mehr um Bewertung, Lob, Kritik, Aufrechterhaltung oder Reform eines alten Systems geht, sondern sie sich schon längst im Wandel und auf dem Weg in ein neues befindet.
► Würde und Demokratie in der Kommunikation
Hüther beschreibt die Würde als einen inneren Kompass, der uns hilft, unser Zusammenleben so zu gestalten, dass es uns und anderen gut geht. Ziel ist, dass jeder die in ihm angelegten Potenziale entfalten und ein Leben lang weiterentwickeln kann. Dazu ist es unabdingbar, dass jeder Einzelne sich als Gestalter erlebt und nicht als Objekt zur Realisierung der Absichten Anderer zur Verfügung stellt [1].
Im Gesprächsverlauf zeigt sich, dass Tracy und Simon diese essenzielle Bedingung teilweise sogar noch authentischer erfüllen als Hüther selbst. Und tatsächlich fühlte sich zu Recht nicht immer jeder würdevoll behandelt. So beispielsweise, als Christian Wulff verkündete, er sehe die Überbevölkerung als größtes Entwicklungshemmnis Afrikas. Auch dass er den Einwand der beiden jungen Vertreter der Demokratischen Stimme der Jugend zu Ausbeutung und Ressourcenkriegen durch den Westen negierte und über sie hinwegging, provozierte negative Reaktionen aus dem Publikum.
Mehrmals erklang die Aufforderung, Tracy Osei-Tutu als Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, zu begreifen. Trotzdem stand diese und die damit assoziierte Rolle im Mittelpunkt. Das wirft die Frage auf: Inwiefern sind die meisten Menschen aufgrund ihrer persönlichen Prägung überhaupt dazu fähig, eine würdevolle Kommunikation zu pflegen, ohne sich, das Gegenüber oder Dritte zum Objekt zu machen?
Vielleicht sollte sich jeder einmal selbst fragen, wann er das letzte Mal ein würdevolles und gewaltfreies Gespräch mit einem Andersdenkenden geführt hat. Hüther schlägt hierzu vor, ein gemeinsames Anliegen zu suchen.
Etwas Verbindendes, damit man sich selbst und auch den Anderen als Subjekt begreift, mit schöpferischem Potenzial.
[1] stern-Artikel vom 26. März 2019: "Wir alle wollen in Würde sterben, aber lasst uns doch erst mal in Würde leben" >> weiter.
Nina Forberger und Madita Hampe
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Nina Forberger, Jahrgang 2001, ist Schülerin an einem sächsischen Gymnasium und hofft, dieses 2019 mit dem Abitur verlassen zu können. Ihre dann erlangte Freiheit möchte sie erst einmal im Ausland genießen. Sie ist eine junge Friedensbewegte, die in Zeiten von Kriegen und zerstörerischem Neoliberalismus in ihren Texten nicht nur analysieren und kritisieren, sondern vor allem zu Solidarität und Liebe aufrufen möchte. Sie ist Mitglied der Rubikon-Jugendredaktion und schreibt für die Kolumne „Junge Federn“.
Madita Hampe, Jahrgang 2002, lebt in Leipzig und sieht sich gezwungenermaßen als Autodidaktin. Sie verleiht ihrem politischen und philosophischen Interesse vorwiegend journalistisch Ausdruck, da dies der nahezu einzige gesellschaftspolitische Bereich ist, in dem Analyse und Aktivismus sich auf Augenhöhe begegnen und kooperieren können. Ihr Anliegen ist es, ihre Energie, Kraft und Kreativität in eine friedlichere, gerechtere und demokratischere Welt ohne Herrschaftsverhältnisse zu lenken. Sie ist Mitglied der Rubikon-Jugendredaktion und schreibt für die Kolumne „Junge Federn“.
► RUBIKON: Im Gespräch: „Die Menschheitsfamilie“ (Gerald Hüther, Christian Wulff, Jens Lehrich et al.) (Dauer 1:15:13 Min.)
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Quelle: Dieser Text erschien als Erstveröffentlichung am 22. Juni bei RUBIKON >> rubikon.news/ >> Artikel. RUBIKON versteht sich als Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung, vertreten durch den Geschäftsführer Jens Wernicke. RUBIKON unterstützen >> HIER.
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2. Buchcover: "Würde. Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft" von Gerald Hüther, Mitarbeit von Uli Hauser, Verlag Knaus, Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, ISBN: 978-3-8135-0783-6, erschienen am 05. März 2018. € 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,90
Wir alle wollen in Würde sterben, aber sollten wir nicht erst einmal in Würde leben?
Würde ist ein großer Begriff. Gleich in Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch was genau ist Würde? Was bedeutet es, wenn uns unsere Würde genommen wird, weil wir etwa in der digitalen Welt nur noch als Datensatz zählen oder im Netz geschmäht werden? Wenn wir uns selbst würdelos verhalten oder andere entwürdigen?
Der Hirnforscher Gerald Hüther zeigt in seinem neuen Buch, dass Würde nicht allein ein ethisch-philosophisch begründetes Menschenrecht ist, sondern ein neurobiologisch fundierter innerer Kompass, der uns in die Lage versetzt, uns in der Vielfalt der äußeren Anforderungen und Zwänge in der hochkomplexen Welt nicht zu verlieren. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken. Denn: Wer sich seiner Würde bewusst ist, ist nicht verführbar. (-Klappentext)
3. Prof. Gerald Hüther, (* 15. Februar 1951 in Emleben), Neurobiologe und Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Bücher, sowie anderer Schriften. In seiner Öffentlichkeitsarbeit geht es ihm um die Verbreitung und Umsetzung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale.
Foto ohne Textinlet: Franziska Hüther. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“ (CC BY-SA 4.0). Das Originalfoto wurde gespiegelt und mit einem Zitat Hüthers angereichert von Wilfried Kahrs (WiKa). „Kein Mensch kann die in ihm angelegten Potentiale entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird oder er gar selbst seine eigene Würde verletzt.“