Die Wahrheit über uns und unsere Gesellschaft!
von Serdar Somuncu
So lange es uns gut geht, in unserem Kokon, so lange wir zu essen und zu trinken haben und überall dort hinreisen können wohin wir reisen wollen, ist alles gut. Aber wenn jemand kommt und uns irgend etwas wegnimmt, und sei es nur ein bisschen Luft zum atmen, dann kriegen wir Angst. Dann fühlen wir uns bedroht. Von unsichtbaren Mächten. Dann beginnt ein Verteilungskampf, gegen Geister.
Denn niemand kommt hier hin und bedroht uns. Wir bedrohen die Menschen die hier hin kommen. Wir zerstören ihre Heimatländer. Wir bringen sie in ihren Heimatländern um, ohne das wir uns die Finger schmutzig machen. Wir beuten sie aus, für unseren Reichtum. Wir lassen sie arbeiten für Hungerlöhne. Und wir wollen nicht das sie hier hin kommen, dass sie das gleiche Leben führen dürfen, das wir hier auch führen. Ein Leben in Frieden, in Freiheit, in Wohlstand.
Wir sind maßlos, arrogant, degoutant. Wir blicken auf andere herab. Wir machen uns kein Bild von ihren Existenzen. Wir sehen darin Zahlen und Statistiken, Verhandlungsmasse, über Obergrenzen und strengere Gesetze an den Grenzen. Aber hat sich einer von euch mal vorgestellt, was es bedeuten würde, wenn ihr jetzt, in diesem Moment, diesen Saal verlassen müsstet, weil Bomben auf ihn geworfen werden? Und in der selben Nacht noch, ohne Koffer zu packen, euren kleinen Arsch in ein Schlauchboot zwängen müsstet, zusammen mit eurer Familie, in Dunkelheit, bei Wind und Wetter über ein Meer schippern müsstet.
Hat sich einer darüber Gedanken gemacht, was das bedeutet, diesen Entschluss zu treffen? Oder glaubt ihr den Scheißdreck, den die so genannten Populisten verbreiten? Dass es diesen Menschen die da flüchten, darum geht, uns auszunutzen, dass sie Schmarotzer sind, Sozialtouristen? Was für eine Arroganz! Was für eine maßlose Arroganz besitzen diese Menschen, die ihre Stimmen damit fangen, dass sie Stimmen in den Köpfen der anderen erzeugen. Halluzinationen! Und gerade die Ossis, die vor dreißig Jahren noch hinter einer Mauer gelebt haben, reißen ihre Klappe auf, als hätten sie die Demokratie erfunden.
Terror zum Beispiel. Wir reden über Terror immer dann, wenn irgendwo in unserer Nähe was passiert. Und je näher es ist, desto mehr reden wir darüber. Eigentlich reden wir nur über unsere Angst. Dass es UNS treffen könnte. Wir sind gar nicht emphatisch. Wir denken gar nicht darüber nach, dass es andere getroffen hat, sondern wir versetzen uns in die Lage derer, um uns Sorgen über UNS zu machen.
Der besorgte Bürger, der macht sich nicht Sorgen um andere, der sorgt sich um SICH. Eine sehr egozentrische Gesellschaft in der wir leben. Terror passiert überall jeden Tag. Menschen sterben minütlich. Als in Paris der Anschlag war, und wir gedacht haben, die Welt steht still, und Anteil nehmen wollten damit, das wir unser Facebook-Profilbild geändert haben, in "je suis Charlie", sind am selben Tag in Nigeria zweitausend Menschen von der Boko Haram ermordet worden. Haben wir nichts von mitbekommen. Weil es einfach zu weit weg ist und weil Bimbos, die sterben, viel schwerer mit uns zu identifizieren sind als Menschen, die in Paris auf einem Konzert sind, dem Bataclan. Grausam ist es ohnehin. Ich vergleiche den einen Toten nicht mit dem anderen, aber ignorant ist es dazu. Denn tatsächlich vergleichen wir die Toten miteinander. Tatsächlich hat ein Mensch einen anderen Wert, wenn er weit weg von uns stirbt.
Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist das ich das erzähle, ich weiß nur das es mich wütend macht.
Serdar Somuncu - Die Wahrheit über uns und unsere Gesellschaft!
Der von mir transkribierte Text entspricht im Wortlaut einer Passage aus der vertonten Version der aktuellen CD / DVD von Serdar Somuncu: H2 Universe - Die Machtergreifung.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Jiddu Krishnamurti: "Es ist kein Anzeichen seelischer Gesundheit sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft anpassen zu können." Grafik: Wilfried Kahrs / QPress. Jiddu Krishnamurti (* 12. Mai 1895 in Madanapalle, Indien; † 17. Februar 1986 in Ojai, Kalifornien) war ein indischer Philosoph, Autor, Theosoph und spiritueller Lehrer. Krishnamurtis Lehre geht von der Möglichkeit vollständiger „geistiger“ Freiheit aus, indem durch aufmerksame Beobachtung des eigenen Geistes und seiner Reaktionen in dem Moment, in dem diese geschehen, seine „Natur“ erkannt wird. Beziehungen zum Taoismus und zum Zen-Buddhismus (mit dessen psychologischen Aspekten sich Erich Fromm beschäftigte).
2. Refugees Welcome Here - London Demonstration 12 Sept 2015. Transparent "NO ONE PUTS THEIR CHILDREN IN A BOAT UNLESS THE WATER IS SAFER THAN THE LAND." In a protest organised by Stand Up to Racism, and supported by Stop the War and others, tens of thousands took to the London streets to condemn UK Prime Minister David Cameron's response to the refugee crisis originating in the Middle East and Africa, often as a consequence of UK militarism in those regions.
Foto: RonF / The Weekly Bull. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).
3. Kleinkinder haben es besonders schwer, die strapaziösen kräftezehrenden Monate der Flucht irgendwie hinter sich zu bringen. Sie gehen solange die Beine sie tragen, nicht alle werden es schaffen. Laut der Menschenrechtsorganisation „Save the Children“ sollen schätzungsweise 26.000 unbegleitete Kinder im vergangenen Jahr Europa erreicht haben. Währenddessen geht Europol davon aus, dass rund 27 Prozent der Geflüchteten, die 2015 nach Europa kamen, Minderjährige gewesen sind. Dies würde einer Gesamtanzahl von 270.000 Kindern entsprechen. Laut der UN hat sich diese Zahl bereits erhöht. Ihren Schätzungen zufolge sind seit 2016 35 Prozent der Geflüchteten in Europa Kinder. Foto: Bőr Benedek photo. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).
4. Buchcover: "Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung." von Erich Fromm. Originaltitel: The Sane Society, 1955. dtv, Deutscher Taschenbuch Verlag, 9. Auflage 2016; ISBN 978-3-423-34007-6; Preis 9,90 € [D].
Der große humanistische Denker Erich Fromm nimmt die westliche Konsumgesellschaft in kritischem Augenschein.
»Glücklich sein heißt immer neuere und bessere Waren konsumieren, sich Musik, Filme, Vergnügen, Sex, Alkohol und Zigaretten einverleiben ... Jedermann ist >glücklich< - nur fühlt er nichts, kann er nicht mehr vernünftig denken und kann er nicht mehr lieben.«
Diese ernüchternde Diagnose des »Patienten« Gesellschaft aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts könnte zugleich Befund der heutigen Zeit sein. In seiner sozialpsychologischen Untersuchung unterzieht Erich Fromm die westliche Konsumgesellschaft einer kritischen Bestandsaufnahme und erkennt in der Entfremdung des Menschen von sich selbst und seinen Produkten die Wurzel für eine immer schlimmere seelische Erkrankung. Doch es führen auch Wege zur Genesung, die Fromm in seinen Vorschlägen für wirtschaftliche, politische und kulturelle Neugestaltung konkretisiert.
6. "WIR LEBEN IN EINER WELT, WO SICH HASS AUF LIEBE REIMT". Zitat von Prinz Pi, bürgerlich Friedrich Kautz. Grafik: Wilfried Kahrs (WiKa), QPress..