► von Jens Wernicke (NDS) im Gespräch mit Sebastian Müller (le Bohémien)
Wieso ist der Neoliberalismus seit fast 50 Jahren so wirkmächtig? Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat Edward L. Bernays bereits vor fast einem Jahrhundert formuliert:
„Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie.“
Lässt sich mit dieser Sicht aus der Perspektive der PR die Wirkweise des Neoliberalismus und seines Netzwerkes erklären? Welche Ziele hat der Neoliberalismus, wer unterstützt ihn und wie wurde die politische Landschaft geprägt?
Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit Sebastian Müller, Herausgeber des Mehrautorenblogs le Bohémien, der die neoliberale Invasion seit Langem kritisch begleitet und analytisch seziert.
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Jens Wernicke: Herr Müller, gerade erschien Ihr Buch „Der Anbruch des Neoliberalismus. Westdeutschlands wirtschaftspolitischer Wandel in den 1970er-Jahren“, mit dem Sie die Ursprünge einer inzwischen hegemonialen Gesellschaftsideologie beleuchten. Warum dieses Buch? Was ist Ihre Intention?
Sebastian Müller: Die Idee zu diesem Buch entstand damals im Rahmen meiner Magisterarbeit. Dort setzte ich mich mit der Geschichte des Neoliberalismus, die mich seit den Agenda-Reformen durch Rot-Grün ohnehin schon immer interessierte, intensiv auseinander. Meine Motivation war es, zu verstehen, wie und warum es passieren konnte, dass eine sozialdemokratische Partei sich derart selbst verrät. Mich interessierten die Ursprünge des Ganzen.
Da ich mich insbesondere auf die Entwicklungen in der BRD der 1970er Jahre fokussierte, fiel mir auf, wie vergleichsweise wenig hierzulande die sogenannte neoliberale „Konterrevolution“, gemessen am angelsächsischen Raum, beleuchtet ist. Das ist aber relevant, um etwa die dogmatische Wirtschaftspolitik Deutschlands, gerade in Hinblick auf die Eurokrise, begreifen zu können.
Jens Wernicke: Was genau ist denn „der Neoliberalismus“? Stimmen Sie David Harvey zu, der etwa meint, es handele sich um eine Ideologie, die primär der Privilegien- und Profitsicherung der Reichen weltweit diene – und die alle andere als unwissend weltweit Opfer fordere? Sozusagen also um die ideologisch-moralische Blaupause zur Entfesselung eines ungehinderten Kapitalismus, dem Demokratie und Menschenrechte endlich immer weniger im Wege stehen?
Sebastian Müller: Die Frage, was Neoliberalismus ist, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Das hat mehrere Gründe. Erstens die Genese des Begriffs zu einem allgemeinen Kampfwort, zweitens die Heterogenität des Neoliberalismus selbst. Und drittens, dass auch er sich mit der Zeit „marktradikalisiert“ hat.
Der Politologe Jürgen Nordmann hat einmal treffend darauf hingewiesen, dass unklar ist, „ob es sich beim Neoliberalismus um Ideologie, einen Denkstil, eine Theorie, eine wirtschaftswissenschaftliche Schule, einen Regierungsstil oder um eine Gesellschaftsphilosophie handelt“ – wahrscheinlich alles in einem, so sein Schluss. Und er hat recht, denn heute ist der Neoliberalismus ein Projekt der radikalen Umwälzung der menschlichen Ordnung unter rein ökonomischen Kriterien, das sich zwangsläufig auf staatliche Maßnahmen stützen muss.
Dass das Phänomen „Neoliberalismus“ so schwer zu greifen ist, merkt man allein schon daran, dass die meisten heute schon gar nicht mehr wissen, dass sie selbst neoliberal denken. Viele Facetten des Neoliberalismus wirken auch für das ganz normale Bürgertum, selbst für Linke, attraktiv. Stichwort „Selbstverwirklichung“, Überwindung von Grenzen, Staatsskepsis, „alternative Lebensentwürfe“. Wobei das Letztere meist nur eine konsumistische Selbsttäuschung ist.
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